Abiturrede 2001 (gekürzte Fassung)

(15.06.2001 17:36)

Kultur liefert einer Gesellschaft bestimmte Normensysteme und Zielvorstellungen, die entsprechende gesellschaftliche und individuelle Handlungsformen bedingen. Nachdem wir nun gut die Hälfte unseres bisherigen Lebens auf dieser Schule verbracht haben, fragten wir uns: Gibt es so etwas wie eine goetheschulische Leitkultur? Dieser Frage wollen wir heute einmal nachgehen und haben deshalb unterschiedliche Formen von Kultur genauer untersucht, die unserer Meinung nach ein Bestandteil einer goetheschulischen Leitkulutr seien müßten. FREIHEIT-KULTUR
„Freiheit ist das Einzige, was zählt“ sang einst Marius Müller Westernhagen. Und was könnte sich ein Mensch auch mehr wünschen, als frei zu sein, zwanglos zu leben? Allerdings ist aus unserer Gesellschaft die absolute Freiheit verbannt; sie wird eingeschränkt durch unsere Moralvorstellungen, unsere Kultur und unsere gesellschaftlichen Regeln. Wir genießen also eine gebundene Freiheit – und die konnten wir auch in den neun Jahren an unserer Schule erfahren. Da begegneten uns Wahlmöglichkeiten für Wahlpflichtfächer, Sport- und Leistungskurse.
Da erlangten wir geistige Freiheit durch Wissen. Und da machten wir Erfahrungen, im Miteinander unsere persönlichen Interessen einzuschränken.
Wir standen also oft vor Entscheidungsmöglichkeiten, hinter denen wir Freiheit vermuteten. Letztlich waren sie aber immer beschränkt: Auf das jeweilige Angebot.Doch beziehen wir uns auf die Zeit nach dem Abitur, denn wenigstens hier scheinen wir wirkliche Wahlfreiheit zu haben. Ob Studium, Ausbildung, Bundeswehr oder ein Auslandsaufenthalt, die Möglichkeiten überhäufen sich.
Doch tun sie das wirklich? Tauchen da nicht erneut örtliche Abhängigkeiten, Qualifikationstests oder Numerus Clausus – Beschränkungen auf, die uns Zukünfte ermöglichen, aber auch verbauen können?
So scheint die Institution Schule dem gesellschaftlichen System zu gleichen, in dem Freiheit der einzelnen Menschen eben nur bedingt möglich ist.
Dieser Vergleich von Schule und Gesellschaft ist einfach zu begründen, denn die Menschen auf unserer Schule, wir Abiturienten, bilden letztlich diese Gesellschaft, in die wir heute endgültig entlassen werden. Und deshalb konnten wir also neun Jahre auf dieser Schule die Gesellschaft kennenlernen und üben, uns die Freiheiten, die wir brauchen, zu ermöglichen. Und damit ist unsere Schule letztlich mitverantwortlich dafür, dass wir zu freien Individuen unserer Gesellschaft geworden sind.

BEGLEITKULTUR
9 Jahre. Eine lange Zeit. Doch man ist schließlich nicht allein. Klassenarbeiten, Vokalbeltests, Referate, Mitschüler und nicht zuletzt die Lehrer begleiteten uns in dieser Zeit. Doch um wirklich eine Begleitkultur zu erkennen und zu verstehen, muß man das Wesen dieser Begleiteinflüße verstehen. Vielmehr lohnt es sich doch, die Spezies Lehrer einmal näher zu betrachten. Es handelt sich um diese Menschen, die noch bis zur letzten Woche alles von uns verlangten. Doch Lehrer ist nicht gleich Lehrer. Das Bild veränderte sich in den 9 Jahren Goetheschule für nahezu jeden.
5. Klasse Biologieunterricht. Es klingelte zum Unterrichtsbeginn. Man hatte Angst vor der Person, die höchstwahrscheinlich die x-te unangekündigte Lernkontrolle schreiben lassen würde. Die Person des Lehrers hinterließ einen enormen Eindruck. Allein schon durch den körperlichen Größenunterschied von Schülern und Lehrern.
8. Klasse Lateinunterricht. Wieder klingelte es zum Unterricht. Der Größenunterschied zwischen Schülern und Lehrern wurde beträchtlich geringer. Auch die Rolle hat sich verändert die Respektsperson aus vergangenen Tagen avancierte mehr und mehr zum Feindbild der Schüler, dem das Leben ja nicht zu einfach gemacht werden dürfe.
11. Klasse Geschichtsunterricht. Es klingelt erneut zum Unterricht. Man ist nun endlich Oberstufenschüler. “Will denn jemand nen Stückchen Kuchen? Die Griechen machen wir nächstes Mal.“ Und schon gehen zwei Schüler zur Bäckerei Streiter. Und da gemeinsames Kuchenessen nun einmal zusammenschweißt, nahm auch das Verhältnis Schüler-Lehrer immer freundschaftlichere Züge an.
13. Klasse Abiturfeier. Diesmal klingelt es nicht. Und es ist auch kein Unterricht. Alle Lehrer die ich heute hier sehe, sind nicht mehr meine Lehrer. Ich kann nun sagen: „Es sind jetzt meine ehemaligen Lehrer.“ Ich habe kein Latein mehr, kein Geschichte mehr und auch keine Biologie. Aber ich weiß eins: jeden Lehrertypus, den ich eben beschrieben habe, sehe ich hier sitzen. Und jeder dieser Typen hat mein Bild von einer Begleitkultur – und ich denke, den anderen wird es ähnlich gehen- entscheidend mitgeprägt.

LEID-KULTUR

Schule bedeutet ja, wie wir bereits hörten, nicht immer etwas Positives. Doch können wir wirklich behaupten, wir hätten während unser Schulzeit gelitten?
Mal ehrlich: Hausaufgaben, Vokabeltests und Klausuren erschienen uns doch die ganzen Jahre über nur als netter Beigeschmack.
Wir wollten doch herausgefordert werden.
Wir wollten Hausaufgaben, um nicht den Nachmittag untätig zu Hause zu verbringen.
Und wir wollten Klausuren, um dem Lehrer zu beweisen, wie gut wir stets seinen Stoff verfolgten.

Schließlich war es für uns kein Aufwand, acht Stunden am Tag den Vorträgen unserer Lehrer zu folgen und pure Konzentration an den Tag zu legen. Denn wir wollten ja unser Abitur machen, und erhielten dafür stets die nötige Motivation.

Und weil auch die Verständigung zwischen Lehrern und Schülern aufgrund des geringen Altersunterschiedes gut vonstatten ging, waren Reibereien zwischen den Parteien ausgeschlossen. Und auch, dass der Unterricht von Autoritäten zu Untertänigen vollzogen wurde.

Und schließlich ist alles Genannte etwas, was nicht jede Schule vorzuweisen hat: Makellose Lehrer für makellose Schüler.

ZEIT-KULTUR
Sie hören gerade eine Abiturrede und wir sind nun an dem Punkt angelangt, an dem es Zeit ist, ernsthafte Gesichter aufzusetzen und sich nachdenklich zurückzulehnen. Es geht um die Zeitkultur. Es liegt eine lange Zeit – nämlich mindestens 9 Jahre auf der Goetheschule- hinter uns, in der wir nahezu alle Höhen und Tiefen, die man als Schüler mitmachen kann, erlebt haben. Wir haben mit dem Abitur unsere ganz persönliche Zeitkultur entscheidend beeinflußt und können nun auf die Schulzeit zurückblicken.

Viel entscheidender als der Rückblick auf die Schulzeit ist jedoch der Ausblick auf die Zukunft. Bundeswehr, Zivildienst, ein Freiwilliges Soziales Jahr, Ausbildung oder Studium sind erst die unmittelbaren, absehbaren Lebensabschnitte, die auf uns zukommen.
Was heute noch keiner weiß, ist wie es in 10, 20 oder 50 Jahren bei jedem einzelnen von uns aussieht. Haben wir hier vielleicht schon eine zukünftige Nobelpreisträgerin sitzen? Ist vielleicht einer der nächsten Bundeskanzler unter uns? Oder wird jemand vom Schultheater in einigen Jahren für einen Oscar nominiert? Die Antworten auf diese Fragen kann heute niemand geben. Aber ich bin mir sicher, jeder der hier Anwesenden interessiert sich brennend für die Antworten, die uns letztendlich das Leben auf diese Fragen geben wird.

Fazit

Rückblickend erkennen wir also, dass die Jahre auf der Goetheschule große Bedeutung hatten für unsere persönliche Entwicklung und unsere Zukunft in der Gesellschaft.

Wir wurden konfrontiert mit Regeln und Pflichten, die uns beileibe nicht immer angenehm waren.
Wir trafen auf verschiedene Menschentypen, denen wir mal unter-, mal übergeordnet waren.
Wir konnten im Miteinander eigene Fehler erkennen und sie der Gemeinschaft anpassen.
Wir wußten unsere Freiheit eingeschränkt und erkannten, dass wir sie selbst durchsetzen müssen.
Wir haben gelitten unter Menschen, unter Stress und unter Leistungsdruck. Gelitten unter Dingen, die uns im späteren Leben genauso begegnen werden.

Und deshalb bedeutet goetheschulische Leitkultur das eben Genannte, bedeutet dass wir Schüler von den Erfahrungen auf der Goetheschule zehren sollen.
Bedeutet dass wir unser Handeln in der Schule in unserem späteren Leben weiterführen, und dass wir durch unsere Erfahrungen vorbereitet sind auf das wahre Leben.
Auf das Leben in unserer Gesellschaft.