Die Wahrheit bleibt auf der Strecke

Von unserer Redakteurin Viola Teubert (03.04.2003 00:47)

„Journalistische Bilder lügen nicht!“. Das ist zumindest die durchgängige Auffassung vieler Zeitungsleser. Aber wird zu besonderen Anlässen wie beim gegenwärtigen Irak-Krieg nicht die Macht des Bildes missbraucht?

Herr Seidenfaden, Chefredakteur der HNA

Live-Bildern vom schnellen und „sauberen“ Krieg der Alliierten und Horror-Dokumentationen aus der Sicht der Angegriffenen werden täglich als Sensation weltweit veröffentlicht. Längst wird deutlich, dass die Bilder vom Krieg auch den Interessen der Kriegsführenden dienen. Sie sollen dem Feind psychologisch Schaden zufügen und ddie eigene Bevölkerung motivieren. Beide Seiten kämpfen mit der journalistischen Waffe, mit der nicht Städte erobert werden, sondern die Gefühle der Menschen. So werden die Reporter offensichtlich vor den Karren der Propaganda gespannt, sie rücken selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Können wir im Moment wirklich alles glauben, was wir lesen, hören und sehen?

Aus diesem Grund startete die HNA eine besondere Aktion: ihre Redakteure wollen an Kasseler Schulen gehen, um mit ihnen über die Berichterstattung des Irak-Krieges in Wort und Bild zu reden. Dabei soll uns Schülern veranschaulicht werden, wie wir zukünftig kritischer mit den Informationen über den Irak-Krieg umgehen könnten.

Das Goethe-Gymnasium Kassel hatte das große Glück, dass der Chefredakteur der HNA, Horst Seidenfaden, persönlich Rede und Antwort stand. Zunächst stellte Herr Seidenfaden heraus, dass er – selbst Vater dreier Kinder im Alter von 11, 17 und 18 Jahren – täglich direkt mitbekomme, wie brisant das Thema „Irak-Krieg“ auch in Schulen diskutiert werde. Für ihn also ein besonderer Anlass, Schülern einen Einblick in das alltägliche Dilemma „Wahrheit oder Lüge“ bei Redaktionskonferenzen der HNA zu dokumentieren.

Er weist darauf hin, dass die HNA täglich 150 bis 200 Presse-Agenturmeldungen und über 200 Bilder allein nur vom Irak- Krieg bekomme. „Da stellt sich natürlich für eine Redaktion stets die schwierige Frage, welches Foto am nächsten Tag abgedruckt werden soll? Soll man den Irak-Krieg wieder zum Titelthema machen oder hat das Kriegsgeschehen für die Kasseler Leser inzwischen nicht mehr die Brisanz, denn schließlich muss die HNA zusätzlich zu ihren Abonnenten eine möglichst hohe Verkaufszahl erreichen. Da kann die Titelseite mit dem Aufmacherbild einer Zeitung entscheidend sein!“ betont Herr Seidenfaden.

Am Beispiel der BILD-Zeitung verdeutlicht er, dass die Berichterstattungen über den Irak- Krieg in den letzten Tagen in allen Medien deutlich zurückgegangen sind: „Das liegt sicherlich vor allem daran, dass sich die Leser nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr so stark dafür interessieren. Inzwischen drängt sich vielmehr das Problem der gefährlichen Lungenkrankheit SARS auf, dessen Erreger auch erstmals einen Deutschen erwischt hat. „Vielleicht haben wir bereits morgen dieses Thema auf unserer Titelseite.“

Der Chefredakteur der HNA stellt heraus, dass die HNA selbst keine Redakteure ‚vor Ort‘ habe, also angewiesen sei auf die Berichterstattung der Presseagenturen. „Die HNA wie andere große Zeitungen schenken ihren Agenturen DPA und AP vollstes Vertrauen, aber letztendlich kann auch ihr Wahrheitspotenzial nicht überprüft werden“, so Herr Seidenfaden. „Auch die vielen hundert Fotos, die tagtäglich bei der HNA eintreffen, müssen überprüft werden, ob sie für den Artikel oder für die Titelseite geeignet sind. Vor allem bei dem Irak-Krieg ist es sehr schwierig zu entscheiden, ob gewisse Fotos nicht vielleicht ‚moralische und ethische Grenzen‘ überschreiten. Denn wollen Sie beim Frühstück die Zeitung aufschlagen und in das verzweifelten Gesicht eines Soldaten schauen, der gleich erschossen wird?“

Anhand einer Dokumentation von 13 Fotos, die unterschiedliche Szenen des Irak-Krieges veranschaulichen, verdeutlicht er den Schülern die Problematik bei der Auswahl eines Bildes. „Gestern hatte ich zum Beispiel innerhalb der Redaktion eine Auseinandersetzungen hinsichtlich der Fragestellung: welche informative Qualität hat das ausgewählte Aufmacherfoto für unsere Leser? Die Redaktion hat mich überzeugt.“

Damit stellte Horst Seidenfaden heraus, dass für ihn und seine Redaktion besonders bei der Bildauswahl stets folgende Fragen berücksichtigt werden müssen: Welche Absichten verfolgen wir von der HNA mit der Auswahl? Überschreitet das Bild gewisse Grenzen? Ist dieses Bild moralisch noch zu vertreten? Ist dieses Foto etwa nur ein Propagandabild – ein „Fake“, also ein inszeniertes, ein gestelltes Foto? „Wir alle glauben natürlich erst mal das, was wir sehen. Wie soll dann ein normaler Zeitungsleser noch wissen, ob das Foto, auf dem ein Soldat einer verletzten irakischen Frau hilft, nun gestellt ist oder nicht?“

Für Herrn Seidenfaden gilt, dass die HNA bei der Berichterstattung über den Krieg versucht, möglichst eigene Emotionen zur Seite zu schieben, um weitestgehend objektiv berichten zu können: „Unser Ziel und unsere Aufgabe als Journal ist, dass sich schließlich unsere Leser ihre eigene Meinung bilden. Das fällt jedem schwer, denn bei dieser Berichterstattung über den Irak- Krieg gibt es ‚keine Wahrheit‘, nur Mischungen aus Fakten!“

Wer weiß , ob wir jemals die ganze Wahrheit erfahren werden?