Für Erstwähler eine große Hilfe

Aus unserer UMLAUF Online Redaktion (16.09.2005 17:37)

Zu einer Diskussionsveranstaltung mit Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 12 und 13 hat die Fachschaft Politik des Goethe-Gymnasiums die Bundestagskandidaten des Wahlkreises Kassel am Freitag, den 16. September 2005, in die Aula eingeladen. Im Mittelpunkt sollten aktuelle Themen der Bundestagswahl, die Positionen der Parteien, aber vor allem die Fragen der Schülerinnen und Schüler zu diesem Komplex stehen.

Die Diskussionsrunde
Berninger, Domes, Dyckmans, Eichel, Gehb und Lühmann (v.l.)

Zugesagt hatten Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD), Mechthild Dyckmans (FDP), Dr. Jürgen Gehb, Bundestagsabgeordneter von der CDU, Matthias Berninger, Staatssekretär (Bündnis ’90/Die Grünen) und Norbert Domes (Die Linke). Die Diskussion wurde von den PoWi-Lehrern Heike Lühmann und Thomas Wiemeyer geschickt und souverän geleitet.

Zu Beginn der Veranstaltung sollten die Politiker die Frage nach ihrer eigenen Vision 2010 beantworten, die der 13er-Leistungskurs Politik und Wirtschaft ihnen vorab zugestellt hatte. Während Dr. Gehb als rechtspolitischer Sprecher der CDU naturgemäß den Schwerpunkt auf das „überdrehte“ Rechtsverständnis z.B. beim Autobahnbau in Nordhessen hinwies und „Kammmolche bzw. Hirschkäfer“ in die Schranken verweisen möchte, lag Eichels Vision in einer seiner Meinung realistischen Perspektive von mehr Wachstum und Haushaltskonsolidierung, Ausweitung von Bildung und Forschung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Ausweitung der Solarwirtschaft und einem europäischen Sozialmodell ohne Beteiligung an „kriegerischen Abenteuern“.

Frau Dyckmans sah ihre Perspektive in einer Kanzlerin Merkel bis zum Jahr 2010, umfassenden Veränderungen im Ausbildungsbereich mit Hilfe der Wirtschaft, Ausweitung der Kinderrechte und Deregulierung der Universitäten bei gleichzeitig besserer Ausstattung über moderate Studiengebühren. Die Förderung von Familiengründungen, begleitet durch Verminderung der Jugendarbeitslosigkeit, wurde aber kontraproduktiv mit flexibleren Arbeitszeiten verbunden.

Ganz anders argumentierte Herr Domes, der den übermächtigen Einfluss von nur „einem Prozent der Bevölkerung“ zusammen mit der Macht der Medienkonzerne beklagte. Seine Vision zielte dementsprechend auf eine „Ausweitung der demokratischen Willensbildung“ über Elemente der direkten Demokratie. Im Bildungsbereich forderte er eine qualifizierte Ausbildung für alle, finanziert über eine Ausbildungsplatzabgabe, ein freiwilliges ökologisches Jahr und die grundsätzliche Ablehnung von Studiengebühren. Die Abschaffung der Wehrpflicht, ein 100.000-Mann Heer und der militärische Rückbau (Konversion), verbunden mit einem „echten Atomausstiegsgesetz“, sollen in seiner Vision 2010 Deutschland zu einem „Friedensland“ umgestalten.

Herr Berninger, grüner Staatssekretär im Verbraucherministerium, sieht eine gerechte Umschichtung der Agrarsubventionen in den Bildungs- und Wissenschaftsbereich als notwendig an, aber noch drängender die weltweite Verstärkung des Klimaschutzes durch erneuerbare Energien – mit Kassel als einem der zentralen Forschungszentren. Seine Vision der sozialen Gerechtigkeit mündete in einer „Schumi-Steuer“, eine Steuer für prominente Steuerflüchtlinge, die sie in dem Land zahlen sollen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

Interessant war die nächste Frage des Leitungsteams über die persönlichen Motive der anwesenden Politiker bezüglich ihrer Bundestagskandidatur. Während Herr Gehb – seit 1998 Bundestagsabgeordneter – angab, dass das ewige „Meckern am Biertisch“ dazu beitrug politisch aktiv zu werden, begründete Herr Eichel den Beginn seiner langen Karriere vom Kasseler Oberbürgermeister bis zum Finanzminister mit der kritischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den 50er Jahren. Frau Dyckmans, seit 28 Jahren FDP-Mitglied, will mit 54 Jahren in den Bundestag, weil ihre Kinder jetzt erwachsen seien und sie als Richterin die oft unverständlichen Gesetze nachbessern möchte. Sehr emotional geprägt durch die Nachkriegszeit, den Kalten Krieg, das Schweigen zum Faschismus und den Nazis in den Landtagen hat sich Herr Domes seit seinem 16. Lebensjahr politisch engagiert, immer mit dem Ziel, für die Schwachen unserer Gesellschaft einzutreten.

Von allen Vertretern war Herr Berninger mit 34 Jahren der bei weitem jüngste Politiker in der Runde mit einer unglaublichen Karriere: Abitur an unserer Schule im Jahr 1990, im gleichen Jahr Eintritt in die Partei der Grünen, vier Jahre später Abgeordneter im Bundestag und seit 2001 Parlamentarischer Staatsekretär. Seine etwas kurze Begründung war, dass durch Hartnäckigkeit ökologische Korrekturen möglich seien, was er mit der „kompletten Veränderung der Landwirtschaft“ in seinem Bereich verdeutlichen wollte.

Die anschließende Diskussion mit den Schülern bezog sich auf die drei Schwerpunkte „Außenpolitik“, „Arbeitsmarktpolitik“ und „Soziale Gerechtigkeit“. Mit einigen Diskussionsausschnitten soll kurz verdeutlicht werden, wie die Fragen der Schülerinnen und Schüler von den Politikern beantwortet worden sind.

Der Vertreter der Linken Liste sprach sich auf Schülerfragen energisch gegen einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat aus, da die Erweiterung der politischen Einflussnahme auch zu vermehrten militärischen Einsätzen führen würde. Die übrigen Vertreter verteidigten deutsche Militäreinsätze unter einem UN-Mandat. Besonders Berninger führte in drastischer Weise die Massenmorde im bosnischen Sebrenica 1995 an, die letztendlich zu militärischen Einsätzen der Bundeswehr führten. Im Gegensatz zu Gehb, der die USA als Weltpolizist sieht, ordnet Eichel der UNO diese Rolle zu. Einsätze der Bundeswehr im Inland selbst werden von allen abgelehnt, d.h. ein „Kampfpanzer am Goethe-Gymnasium“ sei Unsinn, aber bei Atomwaffen in Terroristenhände wäre der Einsatz von Militär denkbar, so Gehb.

Bei den arbeitsmarktpolitischen Fragen von Julian Lippert zu Mindestlöhnen bzw. zum Kündigungsschutz und von Andreas Witt zu betrieblichen Bündnissen wurde von Domes auf die gefallenen Reallöhne verwiesen, was Mindestlöhne rechtfertige, um das „Auseinanderreißen der Gesellschaft“ zu verhindern. Eine Verunsicherung durch die Verringerung des Kündigungsschutzes sah Berninger, während Gehb diese Maßnahme wirtschaftspolitisch verteidigte, Eichel hingegen auf bereits erfolgte Maßnahmen (befristete Einstellungen, Leiharbeiter) seitens der Bundesregierung verwies und US-Verhältnisse ausschloss.

Gegen Ende der Diskussion zeigten sich leichte Ermüdungserscheinungen auf beiden Seiten. Während Matthias Heitmann unter Beifall einen „gesetzlichen Verbindlichkeits-nachweis für Wahlversprechen“ forderte, versuchte Gehb die Kritik an seiner Partei mit dem Verweis abzuschwächen, dass unpopuläre Maßnahmen eben nicht verschwiegen werden sollten. Dyckmans beklagte sich, dass die FDP allzuoft als die Partei der sozialen Kälte dargestellt würde und Domes unterstellte dem protestierenden Finanzminister, dass seine Steuerreform die Millionäre geschont und damit auch die Pleite der Stadt Kassel mit verursacht hätte.

Esther Milojkovic
Jg.-Stufe 13

Die Veranstaltung ist bei den Schülern insgesamt gut angekommen. Einwände bezogen sich z.B. darauf, dass Eichel manchmal etwas gelangweilt erschien, Herr Domes unpassend gekleidet wäre, Frau Dyckmans zu wenig zu Wort gekommen wäre, Herr Gehb manche Fragen zu respektlos beantwortet hätte und die Redezeiten überschritten worden wären.

Inhaltlich bot nach Meinung von Esther Milojkovic die Veranstaltung eine gute Möglichkeit, sich in kurzer Zeit zu informieren. Aber es bestände die Gefahr, dass sich Erstwähler mehr von dem Auftreten und den Sympathiewerten der Politiker beeinflussen lassen würden. Dennoch wäre die Veranstaltung informativ gewesen und eine einzigartige Möglichkeit, diese Politiker live zu erleben und Fragen zu stellen. Dies haben unsere Jungwählerinnen im Gegenssatz zu ihren männlichen Gegenüber allerdings leider kaum genutzt.