Grundkurs „Kommunikation und Medien“Das Leben wagen… Im Wagen Leben

Von Sebastian Willmund, Jahrgangsstufe 12 (Grundkurs „Kommunikation und Medien“)

Petra und Tina stehen vor einer ungewissen Zukunft. Nur eines ist sicher: Da wo sie jetzt leben, können sie nicht bleiben. Die beiden Frauen wohnen zur Zeit auf dem Wagenplatz an der Eisenschmiede in Kassel. Doch spätestens zum Jahresende wird sich das ändern. Dann nämlich werden die Wagen Baggern und anderen Maschinen weichen müssen. An gleicher Stelle soll eine moderne Parkanlage aus dem Boden gestampft werden.

Die Tage des Wagenplatzes sind gezählt – Ende des Jahres werden die Wagen einer modernen Parkanlage weichen müssen

Der Wagenplatz an der alten Eisenschmiede existiert seit etwa acht Jahren. Damals war der Platz eine ungenutzte öffentliche Fläche, der niemand weitere Beachtung schenkte. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich zwei Studenten mit ihren zu Wohnwagen umgebauten Bauwagen auf den Platz stellten und beschlossen dort zu wohnen. Die Anwohner glaubten anfangs noch an eine Schnapsidee und nicht an ein dauerhaftes Bleiben der Wagen und ihrer Bewohner – verständlich, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand in Kassel Erfahrungen mit Wagenplätzen. Die Wagenburg an der alten Eisenschmiede, die ihre Bewohner oft liebevoll als „Insel des Lächelns“ bezeichnen, war nämlich die erste und bis dahin einzige in Kassel. Und sie machte auch nur den Anfang. Kurz darauf entstand aus einem Studentenprojekt heraus der Wagenplatz „K 18“, der später im Auftrag der Stadt von der Polizei gewaltsam geräumt wurde. Bei der Räumung wurden zahlreiche Studenten und Professoren verletzt.

Der Wagenplatz wird von seinen Bewohnern oft als „Insel des Lächelns“ bezeichnet

Zur Zeit existiert noch ein weiterer Wagenplatz am Kassler Hafen. Doch die Wagenplatzkultur in Kassel ist vom Aussterben bedroht. Vor drei Jahren lebten auf der „Insel des Lächelns“ noch ungefähr fünfzehn Menschen. Heute sind es nur noch vier. Und es sind nicht ausschließlich Studenten die dort wohnen oder gewohnt haben – eine Tatsache auf die die Bewohner großen Wert legen. „Natürlich leben hier auch Studenten“, erzählt Tina, die selbst Automechanikerin ist, „aber hier wohnen genauso normale Arbeiter und Sozialhilfeempfänger. Das ist genau wie in einem normalen Mietshaus auch.“

Zusammen mit ihrer Freundin Petra, die in Kassel Betriebswirtschaftslehre studiert, will Tina für das Überleben der Wagenplatzkultur in Kassel kämpfen. Gemeinsam haben sie einen Verein zur Rettung der Wagenplatzkultur in Kassel gegründet, der bislang fünf Mitglieder hat. Dieser Verein bietet eine bessere Grundlage bei den Verhandlungen mit der Stadt Kassel um einen neuen Stellplatz. Im Moment wird bei der Stadt Kassel noch intern geprüft ob andere geeignete Plätze als Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Zwar zeigt die Stadt bei der Suche nach einer neuen Fläche relativ viel Einsatz, eine Garantie für einen neuen Platz kann sie Petra und Tina aber nicht geben. Die einzige Garantie, die die beiden haben ist, dass sie, wenn sie zum Jahreswechsel nicht freiwillig gehen, geräumt werden – notfalls auch mit Gewalt. „Eins steht fest“, sagt Tina, „ich will weiterhin im Wagen bleiben. Und wenn uns die Stadt keinen neuen Platz zur Verfügung stellt, gibt es für mich nur eine Lösung: Ich werde in eine andere Stadt ziehen, in der ich legal in meinem Wagen wohnen kann.“
Auf die Frage, ob sie sich vorstellen kann, anstatt in eine andere Stadt zu ziehen, sich eine Wohnung zu suchen, antwortet sie: „Nein! Ich will auf jeden Fall im Wagen bleiben. Früher habe ich in einer Wohngemeinschaft gelebt aber nach einiger Zeit ist es mir da einfach zu eng geworden. Allein in einer Wohnung möchte ich aber auch nicht sein. Ich brauche Leute um mich herum. Der Wagen ist da die ideale Mischung. Auf der einen Seite brauche ich nur die Tür hinter mir zuzumachen und schon habe ich das Gefühl allein und ungestört zu sein, auf der anderen Seite brauche ich nur einen Fuß vor die Tür zu setzen, und schon bin unter Leuten.
Außerdem liebe ich es zwischen mir und draußen nur eine Tür zu haben. Und ich mag die Kontraste. Auf gewisse Weise lebe ich hier altertümlich. Ich heize mit einem Holzofen und habe kein fließendes Wasser. Aber, und das sehen die meisten Leute von außen nicht, es ist in meinem Wagen teilweise auch sehr modern. Ich habe hier Telefon, Stereoanlage, Laptop und sogar Internetanschluss.“

Wie alle Wagen auf dem Wagenplatz gewinnt auch dieser seinen Strom durch Solarzellen. Der Strom reicht aus um Kassettenrekorder und Laptop zu betreiben

Ein weiterer Punkt ist Petra noch sehr wichtig: „Viele Leute glauben, wir würden aus finanziellen Gründen im Wagen leben. Aber das ist ein vollkommen falsches Vorurteil. Natürlich ist diese Art zu leben recht günstig, aber ich könnte es mir sehr wohl leisten in einer normalen Wohnung zu wohnen. Ich will aber einfach nicht.“

Aber trotz aller Vorteile und Vorlieben möchten Petra und Tina so wie sie im Moment leben, nicht weiter leben. Auf dem Wagenplatz entstehen nämlich auch viele zum Teil schwer zu bewältigende Probleme. Zwei der größten Probleme sind Müll und Schrott. Das sind auch die ersten beiden Auffälligkeiten die ein Außenstehender beim Betrachten des Wagenplatzes bemerkt. Überall stapelt sich der Schrott. Alte Fahrräder, Autos, Traktoren und natürlich verlassene Wagen. Die Schuld an diesem Chaos tragen die Bewohner aber nicht allein. „Viele Leute halten unsere Insel für einen Schrottplatz und eine Müllkippe“, sagt Petra. „Am Vormittag, wenn wir alle weg sind, kommen die Leute dann und laden hier ihren Schrott ab. Wir haben hier schon so ziemlich alles gefunden was man sich vorstellen kann – alte Autos, ganze Sofagarnituren und einmal sogar sechzig Quadratmeter Teppich. Eines Tages forderte uns die Stadt auf, die Müllberge zu beseitigen. Wir haben dann versucht zu erklären, dass der ganze Müll gar nicht hier entsteht und nicht von uns kommt. Schließlich hat eine Begehung des Platzes stattgefunden und die Stadt hat anhand des Mülls gesehen, dass wir nicht als Verursacher in Frage kamen. Warum sollten wir auch alte Wasch- und Spülmaschinen haben. Seitdem dürfen wir sogar gelbe Säcke an die Straße stellen. Normalen Müll und Sperrmüll dürfen wir aber trotzdem nicht beantragen. Die von der Stadt haben nämlich Angst davor, dass wir davon eine rechtliche Duldung ableiten könnten. Denn klar ist, auch wenn uns die Stadt zur Zeit noch hier duldet, wir hier offiziell gemeldet sind und wir einen gemeldeten Telefonanschluss haben, dass wir illegal hier wohnen.“ Ein weiteres großes Problem auf der Wagenburg ist die sanitäre Versorgung. Auf dem Platz gibt es weder Duschen und Toiletten, noch fließendes Wasser und normalen Strom.
Der Strom ist das geringste Problem meint Tina: „Strom ist Luxus. Ich habe zwar meine zwölf Volt Solarzellen auf dem Wagendach, mehr aber nicht. Das reicht gerade zum Betreiben von meinem Kassettenrekorder. Der Strom ist also nicht das Problem. Viel schwieriger wird es da bei den sanitären Anlagen, die hier überhaupt nicht vorhanden sind. Duschen müssen wir bei Freunden in Wohnungen, Toiletten sind in der Uni. Das Wasser holen wir mal hier, mal da. Wenn meine Mama mich besucht, bringt sie mir zum Beispiel immer Wasser mit.“ Das alles sind Dinge, die sich auf einem neuen Platz ändern müssen. Und dafür sind die Mitglieder des Vereins zur Rettung der Wagenplatzkultur in Kassel natürlich auch bereit Pacht zu bezahlen.

Im Inneren eines Wagens. Der Wagen ist Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer zugleich

Im Idealfall sollte der neue Platz so aussehen: „Zum einen sollte natürlich die Größe des Platzes stimmen. Ein Platz auf dem etwa fünfzehn Leute wohnen können wäre ideal. Wohnen wollen wir natürlich weiterhin im Wagen, aber ein Gemeinschaftshaus mit Duschen, Toiletten und einem Gemeinschaftraum wäre eine tolle Sache. Eine geregelte Müllabfuhr und vor allem ein auf längere Zeit angelegter Pachtvertrag, sind natürlich auch sehr wichtig.“
Das sind die Wunschvorstellungen der Vereinsmitglieder. Dass sich das alles nicht realisieren lässt, ist allen klar. Wenn allerdings gar kein passender Platz gefunden wird, ist die Entscheidung der Wagenplatzbewohner schon gefällt.

„Dann werden wir Kassel verlassen und in eine andere Stadt ziehen, in der wir eine bessere Perspektive haben, im Wagen zu wohnen. Wir sind zwar bereit für unsere Ziele zu kämpfen, einen endlosen politischen Kampf zu führen, bei dem wir nie wissen was morgen passieren wird, sind wir aber nicht bereit.“
Die Stadt Kassel wäre gut beraten, die Wagenplatzkultur am Leben zu erhalten und zu fördern, denn die Wohnbedürfnisse der Menschen sind, so glauben Petra und Tina, längst nicht mehr nur auf feste Wohnungen und Häuser beschränkt.
„Immer mehr Menschen suchen nach alternativen Lebensformen. Im Wagen zu leben macht einen unabhängig und gibt einem das Gefühl von Freiheit.“