Ein halber Abend mit Werther

(29.04.2002 23:26)

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages einfangen, die dichte, dunkelgraue Wolkendecke durchdringen, ein leichtes, angenehmes Kribbeln auf der Haut verspüren, und mit diesen Gefühlen vor die abendliche Haustüre treten. Der Beginn eines perfekten Abends…naja.

Michaela Mehring (Charlotte) und Alfred Kim (Werther);
Foto: Thomas Huther

Den Tag zuvor bereits hatte ich bemerkt, dass das Premierenstück des Staatstheaters „Die Leiden des jungen Werther“ in französisch gespielt und lediglich mit deutschen Übertiteln versehen wurde. Na, super, für mich als alten Lateiner eine klasse Voraussetzung für einen unterhaltsamen Abend. Aber anstatt die Karten abzubestellen, wagte ich mich in das Abenteuer, welches mich kulturell nur weiter bringen konnte Oder: Wenn ich das Stück aushalte, halte ich demnächst jedes aus.

Zwei Minuten vor dem Beginn der Premiere wurde mir langsam, aber sicher bewusst, dass mich meine Begleiterin versetzt hatte. Ohne Absage! Na, wunderbar, der Abend nahm Werthersche Formen an.

Michaela Mehring (Charlotte) und Alfred Kim (Werther);
Foto: Thomas Huther

Nachdem im Opernhaus die Lichter ausgegangen waren, erschien ein Mann im grauen Anzug im Focus des Scheinwerferlichtes auf der Bühne, der so gar nicht nach Schauspieler aussah. Mit trockener Stimme verkündete er leidvoll dem Publikum, dass eine der Protagonistinnen heute nachmittag an einem Magen-Darm-Virus erkrankt sei, sich zwar zur Aufführung entschlossen habe, man aber mit ihrer Leistung Nachsicht haben solle. Wunderbar, warum passte das nur so zu dem Abend?

Das Stück lenkte mich – zu meiner eigenen Überraschung – erstaunlich gut von diesem bislang verkorksten Abend ab; trotz der dunklen Bühnenhintergrundfarbe und dem Farbton der Kostüme, der durchweg schwarz war. Die düsteren Farben und die langsame melancholische Spielweise konnten mich wenig aus meiner eigenen Melancholie entreißen. Kein Wunder, dachte ich, dass Goethes Sturm-und-Drang-Phase hunderte Menschen zu liebestollen verzweifelten Selbstmorden hinreißen ließ.

Michaela Mehring (Charlotte) und Alfred Kim (Werther);
Foto: Thomas Huther

Lediglich der Farbtupfer eines bunten Blumenstrausses auf der Bühne und die Aktion meines Nachbarn, der nach etwa einer dreiviertel Stunde erst seine Brille aufsetzte, liessen mich kurz schmunzeln und bis zur Pause überlegen, ob mein Nachbar die ganze Zeit ohne Brille gedacht hat, er habe einen Obstler zu viel getrunken. Oder vielleicht wollte er einfach nur so tun, als verstehe er französisch.

In der Halbzeitpause kapitulierte ich. Werther würde auch ohne mich sterben und verließ das Staatstheater im strömenden Regen. Meine Begleiterin hatte sich mittlerweile gemeldet („Tut mir leid, verschlafen“) und so verbrachten wir den angebrochenen Abend doch noch beim Italiener bei einem lauwarmen Maracujasaft mit ausführlichen, angenehmen Gesprächen.

Wer wird dann noch kleinlich sein? So war ich froh, mich nicht extra für den Abend rasiert zu haben. Es wäre irgendwie nicht passend gewesen.

Die Premiere fand am 27. April 2002 statt.