Und jetzt ist er weg!

Von unserer Redakteurin Clarissa Sinning (19.06.2005 19:23)

Es war ein Tag wie jeder andere. Ich war in der Schule, ging dann nach Hause, machte meine Hausaufgaben. Dann rief er an. Ich wartete schon sehnsüchtig darauf. Er rief jeden Tag gegen 16 Uhr an. Wir redeten über seinen Tag, über meinen Tag und viele belanglose Dinge. Er erzählte mir, dass er später noch mit seiner Mutter zu Bekannten fahren wollte. Dann mussten wir aufhören. Er sagte, dass er mich liebte, ich erwiderte es. So ging das jetzt drei Monate lang. Denn seit drei Monaten führten wir beide nun eine Fernbeziehung. Er war mit seinen Eltern nach Berlin gezogen.

Trauer

Zu Beginn hatten wir beide Bedenken. Wir waren beide erst 14, aber wir liebten uns und es musste irgendwie gehen. Es funktionierte auch. Ich freute mich schon riesig auf den nächsten Monat, denn dann würde er zu Besuch kommen. Ich konnte es kaum erwarten und er auch nicht. Wieso konnte er nicht jetzt schon kommen? Aber das ging nicht und das wusste ich. Als ich abends ins Bett ging, dachte ich an ihn. Wieder ein Tag weniger bis er kommt. Langsam schlief ich ein.

Kreuze im Sepulkralmuseum

Doch mitten in der Nacht klingelte mein Handy. Ziemlich verschlafen meldete ich mich. Zuerst begriff ich gar nicht, wer dran war oder was mir erzählt wurde. Doch ganz langsam kam ich zu mir und dann erkannte ich die Stimme. Es war der Vater meines Freundes. Doch was er mir da erzählte, begriff ich vorerst immer noch nicht. Erst als das Wort „Unfall“ fiel, wurde mir klar, was er da sagte. Mein Freund und seine Mutter hätten einen Unfall gehabt, sagte er. Sie seien mit dem Auto von der Straße abgekommen und mit einem Baum kollidiert.

Dann machte er eine Pause, und ich bemerkte, wie sich alles in mir anspannte und mir Tränen in die Augen stiegen. Mein Freund wäre schwer verletzt worden, erzählte er weiter. Seiner Mutter wäre nichts geschehen außer einem Schock, aber mein Freund hätte schwere Verletzungen. Momentan wisse man noch nicht, ob er überleben würde. Ich konnte nicht mehr klar denken, begriff gar nichts mehr. Er sagte, er müsse jetzt aufhören, würde mich aber anrufen, sobald es etwas Neues gebe. Dann war die Leitung tot.

Autounfall auf der Steinstraße: der letzte Gruß

Foto: Prauß

Ich ließ mich zurück in mein Bett sinken und versuchte zu begreifen, was mir gerade erzählt worden war. „Konnte das sein?“, fragte ich mich. „Nein, das konnte es nicht!“, sagte ich mir. Ich hatte das bestimmt alles nur geträumt! Bald würde ich aufwachen und morgen um 16 Uhr würde mein Handy klingeln wie immer und er würde mir sagen, dass es ihm gut ginge und er viel Spaß bei seinen Bekannten gehabt hätte. Die ganze Nacht versuchte ich mir krampfhaft einzureden, dass es so sein würde. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass nichts mehr so sein würde.

Die ganze Nacht tat ich kein Auge mehr zu. Ich musste die ganze Zeit an meinen Freund denken und an das, was sein Vater mir gerade erzählt hatte. Morgens stand ich auf, völlig übermüded und traurig. Ich dachte immer noch an meinen Freund und betete, dass er wieder gesund werden würde. Zum ersten Mal seit langem freute ich mich wieder auf die Schule. Ein bisschen Ablenkung würde mir ganz gut tun, dachte ich.

Jugendliche betrachten Urnen im Sepulkralmuseum

In der Schule erzählte ich meiner Freundin, was passiert war. Sie legte ihren Arm um mich und sagte mir, dass ganz bestimmt alles wieder in Ordnung kommen würde. Ich hoffte es. Die Schule brachte tatsächlich etwas Ablenkung. Doch dann geschah es! Die große Pause hatte gerade begonnen, als mein Handy klingelte. Ich sah die Nummer, es war der Vater meines Freundes. Ich nahm ab und bevor er was sagen konnte, fragte ich schon: Ist alles ok? Er sagte ich müsse jetzt stark sein. Ich fragte ihn, was geschehen sei. Langsam begann er zu sprechen und was er dann sagte, traf mich wie tausend Messerstiche ins Herz. Mein Freund sei noch in der Nacht ins Koma gefallen und vor zwei Stunden gestorben.

Bevor er noch irgendwas sagen konnte, legte ich auf. Wie in Trance lief ich mit Tränen in den Augen zu meiner Freundin. Selber noch gar nicht begreifend erzählte ich ihr, was mir grade gesagt worden war. Sie nahm mich in den Arm und die ersten Tränen verließen meine Augen. Ich war völlig fertig. Irgendetwas in mir sträubte sich noch immer dagegen es zu glauben.

Autounfall auf der Steinstraße

Foto: Prauß

Meine Freundin fragte, ob ich nicht lieber nach Hause gehen wolle. Ich wollte nicht. Ich wollte jetzt nicht allein sein, ich konnte nicht allein sein! Noch nicht. Als die Schule zu Ende war, fuhr ich nach Hause. Ich lief zu meiner Mutter und erzählte ihr alles. Und erst da begriff ich selbst was geschehen war. Erst in diesem Moment, als ich meiner Mutter in die Augen sah und ihr erzählte, was geschehen war, begriff ich selbst, dass es so war! Nochmals hatte ich das Gefühl, als würden mich tausend Messer ins Herz treffen. Als meine Mutter mich in die Arme nahm, fühlte ich die Leere, die der Tod meines Freundes in mir hinterlassen hatte, zum erstenmal.

Ich weiß nicht, wie lang meine Mutter mich im Arm hielt. Sie sagte etwas zu mir, aber ich begriff nicht, was sie sagte. An diesem Tag, dem 31. Oktober 2002, begann für mich die Hölle. Es klingt vielleicht übertrieben, aber wer schon mal einen geliebten Menschen verloren hat, weiß, was ich meine. An die Zeit nach diesem Tag kann ich mich kaum noch erinnern. Ich habe weitergelebt, aber es war, als wäre ein Teil von mir mit meinem Freund gestorben. Ich war vollkommen leer, ich war nicht mehr die Person, die ich vor seinem Tod war. Ich wusste nicht mehr, wer ich war oder wer ich sein wollte. Jeden Tag um 16 Uhr sah ich auf mein Handy und wartete darauf, dass er anrief und mir erzählte, wie es ihm gehe und was er so mache. So wie immer. Doch ich wusste, dass er nicht mehr anrufen würde.

Grabplatte im Sepulkralmuseum

Und so versuchte ich weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. Morgens wünschte ich mir, dass es Abend werden würde, denn in meinen Träumen war er ganz nah bei mir. In dieser Zeit begann ich mich von den Menschen um mich herum abzuschotten, ich wollte keinen mehr sehen, mit niemandem mehr reden, nicht mehr gefragt werden, wie es mir geht und ob ich klarkomme. Ich versuchte mir einzureden, dass ich klarkommen würde, doch es ging nicht. Und so sehr ich auch versuchte mich abzuschotten, meine Freunde und meine Familie waren trotzdem immer da. Ich hab sie alle nicht gut behandelt in dieser Zeit, aber sie haben mich nie allein gelassen. Und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Auch wenn sie manchmal nicht wussten, dass sie mir halfen, so taten sie es doch.

Mein Bruder hat in der Zeit einmal zu mir gesagt, dass er mir helfen will, aber nicht weiß, wie er das tun solle. Doch er hat mir geholfen, einfach indem er da war. Mittlerweile kann ich damit leben, dass mein Freund nicht mehr da ist. Leben tut er auf eine Weise immer noch, in meinem Herz und in meiner Erinnerung. Ich dachte, er hätte mich verlassen, aber das hat er nicht. Ein Teil von ihm lebt in mir weiter und es tut gut, das zu wissen.

Eins habe ich gelernt. Einen geliebten Menschen zu verlieren, tut immer höllisch weh, aber man darf sein Leben nicht dem Verlust und dem Schmerz überlassen. Bis man soweit kommt, dass man damit leben kann, dass ein geliebter Mensch nie wieder kommt, ist ein sehr langer und beschwerlicher Weg, das weiß ich jetzt. Aber ich weiß auch, dass man es schaffen kann. Und ich wünsche jedem, der so eine Erfahrung machen muss, dass er Menschen hat, die ihn auf seinem Weg begleiten, so wie meine Freunde und meine Familie mich begleitet haben, und dass er irgendwann mit diesem Verlust leben kann und nicht an seinem Schmerz und seinem Verlust zerbricht. Lassen wir die Menschen, die wir durch den Tod verloren haben, in unseren Erinnerungen und Herzen weiterleben, denn so sind sie immer bei uns und begleiten uns auf unseren Wegen!