Victor, der Wolfsjunge

von Larissa Schäfer, Jg.-Stufe 11 (14.09.2002 19:46)

Am 8. November 1800 wird im Wald von Südfrankreich ein wilder, ca. 10 Jahre alter Junge gefunden, der anscheinend unberührt von der Gesellschaft nur auf Nahrungssuche und Freiheit fixiert ist. Er wird, nachdem er für stumm erklärt wird, da er auf normale Geräusche wie Sprache nicht reagiert, in ein Taubstummeninstitut gebracht.

Die Wissenschaftler sind begeistert und sehen die Chance, einen von der Zivilisation völlig unberührten Menschen zu behandeln und herauszufinden, wie sich menschliche Natur entwickelt. Auf Grund geringer sichtlicher Fortschritte – verursacht durch das Eingesperrt sein, der Ablehnung seitens der Taubstummen und des ständigen Begaffens durch Besucher – erklären die Wissenschaftler den Jungen für schwachsinnig.

Fasziniert von dem Film «Der Wolfsjunge» des berühmten Regisseurs François Truffauts aus dem Jahr 1969 beschäftigte sich der Autor Mordicai Gerstein lange und intensiv mit der wahren Geschichte des Wolfsjungen aus dem Aveyron, stellte viele Nachforschungen an und veröffentlichte letztendlich ein Bilderbuch für Kinder und einen Jugendroman mit dem Titel „Victor“. Das Buch – die ergreifende Geschichte eines Kindes, dem die Zivilisation fremd ist – wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und im Gemeinschaftskundekurs 11.1 in Form einer Buchbesprechung zur Vertiefung von Sozialisationsaspekten einbezogen. Das Schicksal des Wolfsjungen Victor verdeutlicht im Folgenden Aspekte der «Menschwerdung des Affens»:

Der junge Arzt Jean-Marc Itard nimmt sich des Wolfsjungen Victor an in der Erkenntnis, dass der Junge falsch behandelt wurde, und versucht die Behauptungen der Wissenschaftler zu widerlegen. Zusammen mit seiner Haushälterin Mme Guerin geben sie ihm ein eigenes Zimmer, eine gewisse Freiheit sowie die nie erfahrene Liebe und Zuwendung. Mit Hilfe von Bädern, Massagen, Tast- und Hörübungen fördern sie die wenig ausgeprägten Sinnesorgane von Victor. Der Junge fängt an, zwischen heiß und kalt zu unterscheiden, Kleidung zu tragen, im Bett zu schlafen und mehr auf Menschen und ihre Sprache zu reagieren, die er vorher nie wahrgenommen hat. Die schnellen Fortschritte des Jungen werden bekannt. Deshalb stößt Itard einerseits auf Anerkennung, aber auch auf Kritik. Er setzt seine Untersuchungen fort und weckt Bedürfnisse in Victor, indem er Ereignisse, die Victor Spaß bereiten, wiederholt. Mit der Zeit entwickelt Victor einen eigenen Ordnungssinn und der Arzt wagt sich langsam über Gegenstände, Farben und Formen zum Erlernen des Alphabets heran. Obwohl Victor nur teilweise das Alphabet und auch das Schreiben erlernt, ist er nicht in der Lage, die menschliche Sprache zu erlemen.

Der Entwicklungsweg Victors ist teilweise ein Leidensweg für alle drei, den Arzt, Mme Guerin und Victor selbst, da die Pubertät zunehmend Probleme bereitet. Wutausbrüche häufen sich, und Victor weiß nicht mit seiner Sexualität umzugehen. Da Itard selbst keinerlei sexuelle Aufklärung in seiner Jugend erfahren hat, kann er Victor auf diesem Gebiet nicht weiter helfen. Doch trotz dieser erschwerenden Bedingungen gibt Itard nicht auf. Er ist überglücklich, als er sieht, dass Victor Gefühle gegenüber Menschen entwickelt und auch das nie dagewesene Weinen lemt.

Titelbild des Jugendbuches

Nach mehr als vier Jahren werden die Fortschritte immer geringer und dem Arzt scheint, dass es nicht weiter geht. Itard erkennt jetzt, dass er Victor mit dem Verbot der Anwendung der Zeichensprache die einzige Möglichkeit der Verständigung genommen hat. Zwar ist der Arzt am Ende des Buches glücklich darüber, dass er Victor zu einer menschlichen Person, die in der Gesellschaft überleben kann, gemacht hat, doch ist er zugleich betrübt darüber, dass Victor sich nie richtig verständigen können wird und er, Itard, Victor seines glücklicheren Lebens in der Wildnis beraubt hat. Er schließt seine Forschungsreihe ab und widmet sich wieder den taubstummen Kindern. Victor lebt bis zu seinem Tod mit etwa vierzig Jahren bei seiner Ziehmutter Mme Guerin.

Das Interessante an diesem Buch sind die Perspektiven, aus denen der Autor schreibt. Die Geschichte wird nicht nur aus der Sicht der umgebenden Menschen sowie der auktorialen Erzählungshaltung dargestellt, sondem auch aus der verwirrenden Gedankenwelt von Victor. Der Autor empfindet auch die therapeutisch-pädagogische Denkweise des Arztes Itard nach. Das Buch fragt, ob wir erst durch die Gesellschaft zum Menschen gemacht werden und vermittelt, wie erste soziologische Erkenntnisse wissenschaftlich entwickelt werden: Erst durch das Leben in der Gesellschaft werden wir zu dem, was wir sind, da der Mensch anders als das Tier keine bestimmten, von der Natur vorgeschriebenen Handlungen und Reaktionen hat. Der Menschen ist zwar ein Mängelwesen, aber dafür besitzt er eine gewisse Plastizität und kann damit selbst seine Reaktionen auf die Umwelt bestimmen. Er kann im Gegensatz zum Tiersein Naturdefizite mit Hilfe des Verstandes ausgleichen. Diese Weltoffenheit, die Formbarkeit und der Verstand machen jeden einzelnen von uns zu einem Individuum und unterscheiden uns so vom Tier.