Die Kultusminister auf der Suche nach den fehlenden Studenten

(18.05.2001 15:01)

Immer, wenn die Kultusminister ein Papier trotz monatelanger interner Diskussion nicht verabschieden, sondern nur «zur Kenntnis» nehmen, ist Brisanz angesagt. Hamburg (dpa) – Immer, wenn die Kultusminister ein Papier trotz monatelanger interner Diskussion nicht verabschieden, sondern nur «zur Kenntnis» nehmen, ist Brisanz angesagt. In der Tat: Die in Hamburg vorgelegte, mehrere hundert Seiten starke Prognose über die künftigen Studienanfänger- und Hochschulabsolventenzahlen hat es in sich. Es ist die neue Schreckvision von leeren Hörsälen, fehlenden Studienanfängern und einem drastischen Akademikermangel in Deutschland.
Kaum zu glauben angesichts der Klagen über Fülle und Überlast an den Hochschulen heute. Dabei fehlen auf dem Arbeitsmarkt jetzt schon Informatiker, Lehrer, Chemiker und Ingenieure. Von 100 jungen Deutschen machen 16 einen Hochschulabschluss. Im Durchschnitt der anderen Industriestaaten sind es bereits 27.
International streben nach der OECD-Statistik immer mehr junge Menschen Abitur und Studium an. Doch in Deutschland ist seit Mitte der 90er Jahre der Trend zum Gymnasium gestoppt. Die Übertrittsquote von der Grundschule zu höherer Schulbildung an Gymnasien und Gesamtschulen (ab Klasse acht) geht langsam zurück. Die Folge werden bald weniger Abiturienten sein. Hinzu kommt, dass von denen, die die Hochschulreife erwerben, immer weniger studieren wollen: Von 82 Prozent 1990 sank die Studienbereitschaft auf 68 Prozent (1999) ab.
Aber das ist es nicht allein. Wesentlicher Auslöser für die Sorge über den fehlenden akademischen Nachwuchs in Deutschland ist der «demographische Knick» als Folge des Geburtenrückganges. Ab 2008 gehen die Anfängerzahlen an den Hochschulen zunächst langsam zurück, von 291 000 heute auf 262 000 (2020). Alle diese Kinder sind bereits geboren. Aber selbst bei einem Rückgang um knapp 30 000 fürchten die Experten eine weitere Verschärfung der heute schon festgestellten «Knappheitssituationen» in zukunftsträchtigen Berufen – und damit negative Folgen für die Volkswirtswirtschaft.
Folgt man der Binsenweisheit der Bevölkerungs-Statistiker, dass geburtenschwache Jahrgänge in ihrer «generativen Lebensphase» in der Regel auch wieder geburtenschwache Jahrgänge «produzieren», drohen spätestens ab 2020 an vielen Orten leere Hochschulen: Ohne gravierende Änderung bei der Bildungsbeteiligung der deutschen Kinder und ohne massive Zuwanderung sinkt nach der KMK-Prognose bis 2050 die Studienanfängerzahl bundesweit um ein Drittel auf 193 000 ab.
In den neuen Ländern könnte diese «Entvölkerung» der Hochschulen auf Grund des drastischen Geburtenrückganges nach der «Wende» bereits einige Jahrzehnte zuvor eintreten. Heute schon fehlen dort an vielen Orten die Studenten. Die «Betreuungsrelation» Student pro Professor ist gegenüber dem Westen in vielen Fächern nahezu paradiesisch. Aber mancher Hochschullehrer fürchtet deshalb auch schon die Schließung seines Faches – bis hin zu seiner Entlassung.
Was tun? Die Kultusminister haben ihre Entscheidung über einen «Maßnahmenkatalog» zunächst auf Oktober vertagt. Gravierende Reformen werden angedacht. Mehr junge Leute sollen viel schneller als heute schon nach sechs Semestern einen ersten Abschluss erwerben (Bachelor). Damit soll zugleich die hohe Studienabbrecherquote gesenkt werden, die an den Universitäten bei 31 Prozent, an den Fachhochschulen bei 21 Prozent liegt. Der Trend zum längerem Studium über die Regelstudienzeit hinaus könnte durch Studiengebühren für Langzeit-Studenten gestoppt werden, heißt es in dem Papier.
Eines hat die seit Monaten wie eine Geheimsache in der KMK gehandelte Prognose allerdings bereits bewirkt. Die Rufe nach Hochschuleingangsprüfungen und schärfer Selektion der Studenten, «künstlicher» Anhebung des Numerus clausus in Medizin und Jura oder allgemeinen Studiengebühren vom ersten Semester an sind leiser geworden. Hamburgs Wissenschaftssenatorin Krista Sager (Grüne) sprach gar von einem «Paradigmenwechsel». Nicht Abschreckung ist jetzt angesagt – sondern vielmehr Werben um mehr Studenten.