Immer mehr Lehrer wirft der Stress im Klassenzimmer aus der Bahn

(04.05.2001 19:20)

Für manche sind sie die am besten bezahlten Halbtagskräfte der Nation. Ihre langen Ferien rufen immer wieder Neider auf den Plan. Doch die Realität des Lehrer-Alltags sieht oft ganz anders aus, betonen Arbeitswissenschaftler. Erlangen (dpa) – Für manche sind sie die am besten bezahlten Halbtagskräfte der Nation. Ihre langen Ferien rufen immer wieder Neider auf den Plan. Doch die Realität des Lehrer-Alltags sieht oft ganz anders aus, betonen Arbeitswissenschaftler. Die Studie einer Projekt-Gruppe der Universität Erlangen-Nürnberg belegt: Der Stress im Klassenzimmer wirft immer mehr bayerische Lehrer aus der Bahn. Das gelte auch für andere westliche Bundesländer, sagte Studienleiter Andreas Weber. In den östlichen gebe es wenig Untersuchungen jüngeren Datums.
Viele Pädagogen macht der Job im Klassenzimmer so krank, dass auch die Schulverwaltung häufig keine andere Möglichkeit mehr als die Früh-Pensionierung sieht. Allein von 1996 bis 1999 – dem Untersuchungszeitraum der Studien – waren es 5540 Lehrer, die vorzeitig aus dem Schuldienst ausschieden. Insgesamt hatte 7103 Pädagogen wegen Dienstunfähigkeit einen Antrag auf frühere Rente gestellt. Was dabei selbst Fachleute überraschte: Jeder Zweite von diesen war nach dem Attest des Amtsarztes wegen einer psychischen oder psychosomatischen Krankheit nicht mehr in der Lage, seinen Job auszuüben, berichtete der Sozialmediziner Weber auf dem noch bis Samstag dauernden Kongress der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAU) in Erlangen.
Nach Webers Angaben stießen die Forscher reihenweise auf Lehrer mit Erschöpfungs- und so genannten Burn-Out-Syndromen, Depressionen und psychosomatischen Störungen. Rein körperliche Leiden wie Muskel-, Skelett- oder Herzkreislauf-Erkrankungen folgten erst mit großem Abstand. «Psychische Erkrankungen unter Lehrern sind offenbar weiter verbreitet als bisher angenommen», stellt der Mediziner fest.
Viele psychisch kranke Lehrer wurden dabei im besten Alter zu Frührentnern – im Durchschnitt mit 54 Jahren. Insgesamt arbeiten nur sieben Prozent aller Lehrer bis zum Alter von 65 Jahren.
Unter den mehr als 7000 Antragstellern auf Dienstunfähigkeit seien 57 Prozent Lehrerinnen und nur 43 Prozent Lehrer gewesen. Das entspreche etwas dem anteiligen Verhältnis im Lehrerberuf. Frauen schieden laut Weber jedoch häufiger als Männer wegen psychischer Erkrankungen aus. Über die Gründe für den Unterschied kann auch er nur spekulieren. Eine seiner Hypothesen ist die Doppelbelastung vieler Pädagoginnen, auf die häufig nach der Schule noch Familie und Haushalt warten. «Es könnten aber auch biologische Gründe eine Rolle spielen, die wir bisher nur noch nicht kennen.»
Dabei waren es in der Mehrzahl gar nicht die Betroffenen, die den Anstoß für ihre Frühpensionierung gaben. «In rund 60 Prozent der Fälle ging die Initiative von den Schulbehörden aus», berichtet Weber. Häufig sorgten erkrankte Lehrer für ein Stundenplan-Chaos. Längere Fehlzeiten ließen sich kaum noch mit Vertretungslehrern überbrücken. Schulleiter gerieten dann oft unter starken Druck, sagt Weber.
Eine wissenschaftlich fundierte Erklärung für die Zunahme von Erschöpfungs- und Burn-Out-Syndromen bei Lehrern hat auch Weber nicht, wohl aber Vermutungen. Im Kernpunkt sieht der Arbeitsmediziner die steigenden, kaum noch leistbaren Anforderungen an die Lehrer. «Die Kinder sind heute vielfach schwieriger. Außerdem sollen Lehrer heute elterliche Erziehungs- Aufgaben übernehmen, mit denen sie überfordert sind», meint der Forscher. Intakte Familien seien heute ja schon beinahe die Ausnahme. «Und die Lehrer werden alleine gelassen», sagt Weber. Sie erhielten wenig Beratung, wie sie auf die veränderte Gesellschaft reagieren sollen.
Aber auch die veränderte Umgangsprache der Kinder könne zum Problem werden, wenn ältere Lehrer diese nur noch schwer verstehen. Zudem unterscheide sich der Lehrerberuf in einem entscheidenden Punkt von einem klassischen Schreibtisch- und Fabrik-Job: «Die Lehrer stehen unter permanenter Beobachtung der Schüler.»
Wegen der auffällig hohen Quote psychisch stark belasteter und erkrankter Lehrer hatte Weber schon vor Jahren einen Eignungstest gefordert. Dabei sollte vor allem die Belastungsfähigkeit junger Lehrer-Studenten in puncto Stress geprüft werden. Der Sozialmediziner war damit allerdings auf schroffe Ablehnung gestoßen. Stattdessen favorisiert Weber heute eine kontinuierliche ärztliche und psychische Betreuung der Lehrer während ihrer gesamten Laufbahn.