Kulturkampf im Klassenzimmer

(26.11.2005 14:02)

Sie sitzt auf dem Zeugenstuhl, klein und blass, unscheinbar mit ihrer Brille und der Strickjacke. Nie hätte Julie Smith gedacht, dass es so weit kommen würde. Dass sie vor Gericht gehen und die Schule ihrer Heimatstadt verklagen würde. Denn an der Dover High School in Pennsylvania beschloss die Schulbehörde, dass die Schüler fortan darüber informiert werden sollten, dass die Evolution eine Theorie sei, kein Fakt.

Vorfahren des Menschen (v.l.n.r): Australopithecus anamensis, A. afarensis, Kenyanthropus platyops, A. africanus

Die medizinisch-technische Assistentin Julie Smith lebt in Dover, Pennsylvania, einem Provinzstädtchen mit 22 000 Einwohnern, zwei Autostunden nordwestlich von Washington. Weißer Kirchturm, viel Grün. Und die Dover High School, in die fast alle Jugendlichen des Ortes gehen.

Im vergangenen Jahr, so gibt sie jetzt vor Gericht zu Protokoll, hatte Julie Smith von dem Streit in der Schulbehörde gehört; einer Behörde, die die Bewohner des Ortes aus ihrer Mitte gewählt hatten. Von Gott war die Rede und vom christlichen Amerika und von einem Antrag, den Lehrplan für Biologie zu ändern. Damals hatte Julie Smith auch zum ersten Mal von „Intelligent Design“ gehört – angeblich eine Alternative zur Evolutionstheorie von Charles Darwin, zur Lehre von der Abstammung der Arten.

Die betroffene Schule

Was Wissenschaftlern in aller Welt die Grundlage des modernen Weltbilds ist, wird in den USA inzwischen auf breiter Front unter Beschuss genommen. Als Gegenmodell präsentieren die Anti-Darwinisten die Idee, dass in der Natur eine intelligente Kraft wirken müsse, ein „Designer“. Er habe die Entwicklungsgeschichte allen Lebens von Beginn an gesteuert und begleitet – wahrscheinlich mit dem Ziel, am Ende den Menschen entstehen zu lassen.

Amerikas öffentliche Schulen sind die Festungen, die genommen werden sollen, rund 17 000 Schulbehörden im ganzen Land, die großen Einfluss auf die Lehrpläne haben. Allein in den vergangenen drei Jahren wurden in mehr als 20 Bundesstaaten, wie etwa in Ohio oder New York, Gesetzentwürfe zu „Intelligent Design“ eingebracht oder, wie in Kansas, sogar landesweite Verordnungen für Schulen erlassen, in denen die Evolution infrage gestellt wird. Heute fehlt die Evolution auf dem Lehrplan in vier Bundesstaaten, darunter im bevölkerungsreichen Florida. Im Kreis Cobb, Georgia, prangte im vergangenen Jahr gar ein Aufkleber auf den Biologiebüchern: „Evolution ist eine Theorie, kein Fakt, was den Ursprung des Lebens betrifft.“ Im Januar verfügte ein Richter, die Aufkleber müssten entfernt werden, aber es wurde Berufung eingelegt.

Megan Kitzmiller, Tochter von Tammy Kitzmiller, die die Schulbehörde verklagte

Julie Smith verfolgte die Diskussion mit wachsendem Unbehagen. Eines Tages kam ihre Tochter Katherine, 16, aus der Schule nach Hause, beladen mit Vorwürfen. „Warum glaubst du an die Evolution?“, schrie sie ihre Mutter an. „Was für eine Christin bist du eigentlich? Evolution ist eine Lüge!“ So habe sie es von Freunden gehört. Und in der Schule. „Evolution ist eine Lüge!“ In diesem Moment, als sie Angst bekam vor der wütenden Entschlossenheit ihrer Tochter, entschied sich Julie Smith, etwas zu unternehmen. Gemeinsam mit der Büroangestellten Tammy Kitzmiller und neun weiteren Müttern und Vätern verklagte sie die Schule. Unterstützt werden die Eltern von der liberalen Bürgerrechtsorganisation ACLU, der größten der USA.

Seit Ende September wird der Fall „04cv2688, Kitzmiller gegen Schulbehörde von Dover“ nun vor dem US-Bundesgericht in Pennsylvanias Hauptstadt Harrisburg verhandelt. Der Prozess erregt landesweit Aufsehen. Denn erstmals muss ein Bundesrichter darüber urteilen, ob es sich bei „Intelligent Design“ um eine wissenschaftliche Theorie handelt – oder, so die Position der Kläger, nur um eine moderne, pseudowissenschaftliche Verpackung für den Kreationismus, die Lehre der Bibeltreuen, nach der Gott vor 6000 bis 10 000 Jahren die Erde und die Menschen erschuf. Religiöse Konzepte dürfen an öffentlichen Schulen in den USA nicht gelehrt werden – so verlangt es das Verfassungsgebot der Trennung von Staat und Kirche. So verlangen es auch Julie Smith und ihre Mitstreiter.

Es geht um mehr als einen hässlichen Provinzstreit. Und es geht um mehr als die Evolutionslehre. Die religiösen Hardliner haben allem Atheismus und Materialismus den Kampf angesagt. In einem neuen, christlichen Amerika der Evangelikalen soll allein die Wahrheit der Bibel gelten. Es soll ein Amerika sein ohne Abtreibung, ohne Schwule, ohne Sexualkunde, ohne Darwin. „Diese Leute führen einen Angriff gegen die säkulare Gesellschaft“, warnt Eugenie Scott vom liberalen Nationalen Zentrum für Wissenschaftserziehung.

Charles Darwin 1862: Nahezu 150 Jahre später lehnen 42 Prozent der Amerikaner seine Evolutionstheorie noch immer ab

Zu den Fußtruppen der religiösen Revolution zählen mittlerweile mehr als 100 Millionen Amerikaner. „Man muss endlich verstehen, dass sehr viele Amerikaner viel religiöser sind als die Europäer“, sagt David Masci vom renommierten Washingtoner Forschungsinstitut „Pew Forum über Religion“. „Und besonders die evangelikale Bewegung wächst. 42 Prozent der Amerikaner glauben an die Schöpfung des Lebens durch Gott in sechs Tagen. Sie sind fest davon überzeugt, dass Darwin die moralischen Grundlagen unseres Landes untergräbt. Sie wollen Gott im Klassenzimmer. Und das ist erst der Anfang. Diese Debatte wird immer intensiver geführt werden, überall im Land. Ja, wir befinden uns in einem Kulturkrieg.“

Stern-Artikel aus Heft 46/2005