(02.12.2005 20:53)
In die Rolle des Hilfslehrers gedrängt sehen sich fast alle, manche kommen sich dabei vor „wie ein Kameltreiber“. Eltern von Kindern, die die fünfte oder sechste Klasse eines Gymnasiums in Baden-Württemberg besuchen, beobachten die Konsequenzen aus der Einführung des achtjährigen Weges zum Abitur („G 8“) mit Sorge.
Wenn die Hausaufgaben unter Druck erledigt werden müssen, …
„Um’s gleich vorwegzunehmen: Das achtjährige Gymnasium wird gewiss nicht zurückgedreht“, beugte SPD-Bildungspolitikerin Carla Bregenzer zu Beginn ihrer Veranstaltung in Kirchheim, zu der sich ausschließlich betroffene Eltern eingefunden hatten, falschen Erwartungen vor. Dieses Ziel hatten die Anwesenden auch gar nicht. Einige Plädoyers dienten durchaus der Verteidigung der Idee des „G 8“, durch das unter anderem mehr Konkurrenzfähigkeit im internationalen Vergleich erreicht werden soll. Die Eltern stört nicht die Neuerung an sich, sondern deren Umsetzung in der Praxis.
An welchen Schrauben gedreht werden soll, will Bregenzer, die die „übereilte Einführung“ kritisiert, in Gesprächen mit Eltern und Lehrern herausfinden. Am Dienstagabend erhielt sie in Kirchheim reichlich Argumente, viel Besorgniserregendes wurde sachlich thematisiert.
Gemeinsamer Tenor unter den anwesenden Eltern: Die Schule greift mehr denn je ins Familienleben ein. Das bestätigten besonders jene, die auch „G 9“-Schüler zu Hause haben. „Wer die Situation bei zwei Kindern vergleichen kann, sieht sofort, dass der Stress zugenommen hat“, bilanzierte ein Vater von vier Kindern. „Auf sechs Stunden Schule folgen die schriftlichen Hausaufgaben, Lernen ist da nicht mehr möglich“, beschrieb eine Mutter die Problematik. Vokabeln lernen und die Vorbereitung auf Arbeiten fallen aufs Wochenende. „Das Wochenende im klassischen Sinn gibt es bei uns nicht mehr“, ergänzte eine Frau. Viele berichteten, dass der Stoff knallhart durchgezogen werde, sodass in den Familien geradezu Angst aufkomme, sobald das Kind erkranke.
Eine Mutter, die die Fülle der Hausaufgaben als machbar einstufte, beklagte dennoch die mangelnde Vorbereitung: „Die Kinder sind oft nicht allein zum Lösen fähig“, sagte sie und vermutete, dass in der Schule zu wenig Zeit zum Üben bleibe. „Das Mehrpensum wird aufs Elternhaus verlagert“, resümierte ein Vater unter zustimmendem Nicken. Was das bedeutet, ist klar: Wer zu Hause kompetent betreut wird, kommt eher mit als ein Kind, das aus welchen Gründen auch immer auf sich gestellt ist. „Da steckt ein Fehler im System, wenn Eltern so viel Unterstützung leisten müssen“, sagte ein Vater.
Dass Fünft- und Sechstklässler heute weniger Freizeit haben als noch vor kurzem, haben alle beobachtet. Allen Klagen über dicke Kinder zum Trotz, könne man den Nachwuchs aus Zeitmangel kaum draußen spielen lassen. Musikstunden gelten zeitlich betrachtet als Luxus. „Die soziale Kompetenz geht den Bach runter, weil man sich nicht mehr mit Freunden trifft“, bemerkte eine Mutter. Will die Familie mal nachmittags etwas unternehmen, so sei dies teuer erkauft: Das Kind sitzt dann abends umso länger am Schreibtisch. „Meine Tochter hat einen längeren Arbeitstag als viele Berufstätige“, sprach eine Betroffene vielen Anwesenden aus der Seele.
Ein Vater eines Fünftklässlers wehrte sich allerdings dagegen, alles aufs „G 8 “ zu schieben. Viele Probleme, speziell in der fünften Klasse, seien nicht ursächlich darauf zurückzuführen. Im Übrigen äußerte er die Vermutung, dass vielfach Angst auf die Kinder übertragen werde durch allzu besorgte Eltern.
Dass sie Angst um ihre Kinder haben, gaben die meisten Eltern durchaus zu. Einige erwägen den sofortigen Schulwechsel, um ihrem Kind Druck zu ersparen, andere hoffen ab der Oberstufe auf ein berufliches Gymnasium. Eine Mutter schlug vor, Ferienwochen zu „opfern“, um mehr Zeit für den Stoff zu haben. Eine andere liebäugelte mit der Idee, durch massenhafte Abmeldungen vom Gymnasium Druck auszuüben: „Dann muss der Bildungsplan geändert werden“, lautete ihr Argument.
Eine wichtige Erkenntnis des Abends war auch, dass sich die Klagen nur zum geringen Teil gegen die Lehrer oder die Schulen vor Ort richteten. „Im Grunde tun mir die Lehrer leid“, meinte eine Mutter, seien sie doch selbst in der Experimentierphase. Dass auch ihre Kinder „Versuchskaninchen“ sind, passt den meisten Eltern jedoch bei allem Mitgefühl nicht. Deshalb setzen sie ihre Hoffnungen auf Nachbesserungen.
„An der Lehrerausbildung muss sich etwas ändern“, betonte Carla Bregenzer und erzählte von entsprechenden Diskussionen im Schul- und Wissenschaftsausschuss. Außerdem werde mehr Frühförderung benötigt und eine Art Verzahnung der Gymnasien mit den Grundschulen. Weiter setzt die SPD auf den Ausbau der Ganztagsschulen. Wichtig sei ferner eine nochmalige Entrümpelung des Lehrplanes und eine bessere Verteilung des Stoffs aus der weggefallenen Klassenstufe auf die Klassen fünf bis acht. Diese Ansinnen werden im Landtag in Baden-Württemberg im Januar 2006 erneut diskutiert. Bis dahin sollen Umfrageergebnisse des Landeselternbeirates vorliegen.
IRENE STRIFLER, „Ich fühle mich wie ein Kameltreiber“ vom 1.12.2005
unter: http://www.teckbote.de/region/lokales/Artikel326477