Analyse

(19.10.2001 16:28)

Als Sabine Christiansens Gesprächsrunde am vorletzten Sonntag dem Ende zuging, wurde Otto Schily philosophisch: „Alle Verbrechen fangen in dem Geist und der Seele von Menschen an“ sagte der Bundesminister des Inneren, „deswegen müssen wir das, was als Böses sich der Menschen bemächtigt hat, zurückdrängen, was eine im tiefsten Sinne geistig-politische Auseinandersetzung ist.“ (Sabine Christiansen vom 16.9.01)

Luftangriffe

Nach den Tagen der Lähmung und der kollektiv beschworenen „unbedingten Solidarität“ ist in Deutschland wieder die Normalität der kontroversen Diskussion eingekehrt. Es war die Frage nach der Vergeltungsaktion der USA und einer eventuellen Beteiligung Deutschlands, die die meisten Talkrunden am Sonntag beschäftigte. Zwei Grundlinien der Argumentation wurden hier sichtbar. Einmal die Auffassung Schilys, wonach jetzt nicht die Stunde sei, in der man der USA Vorschriften machen dürfe, was sie zu tun oder zu lassen hätten. Auf der anderen Seite wurden kritische Stimmen laut, die wissen wollten, mit welchem Inhalt die Phrasen des „Zusammenstehens“ und der „großen Dankesschuld“ demnächst gefüllt werden. Zwischenzeitlich wurden aber auch Positionen und Feinbilder gegenüber dem „bösen Islam“ deutlich (Presseclub ARD vom 16.9.01), zugespitzt vom italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi, der in Berlin meinte, dass „unsere Zivilisation dem Islam überlegen“ sei, weil die Freiheit des Einzelnen nicht das Erbgut der islamischen Welt sei. (HNA vom 28.9.01)

Diese Pauschalargumente verschleiern m.E. die eigentlichen Ursachen und blockieren tiefergehende Lösungsversuche. Gefordert sind philosophische, soziologische, psychologische, aber auch politische und militärische Expertisen, um den Verursachern dieser gewaltigen Terroraktion auf die Schliche zu kommen und weiteres Unheil zu verhindern.

Atomreaktorkatastrophen

In diesem Rahmen ist es mir unverständlich, dass sowohl die Selbstmord-Attentate der pälestinensischen Intefada als auch der kollektive Selbstmord bei dem Terrorüberfall nur als fanatischer Ausdruck einer fundamentalistischen Religion abgetan wird. „Sind das noch Menschen, die solche Pläne kaltblütig ausführen?“ fragt Micha Hilgers, Psychoanalytiker in Aachen, in seinem Artikel „Der eigene Tod als Erlösung“ auf die Frage, wie krank man seien muss, um einen solchen Anschlag auf das World Trade Center auszuüben (www.FR-aktuell.de). Auf der daraus folgenden Suche nach den Motiven für solche Anschläge stellt er fest, dass diese Terroristen keine menschenunähnlichen Bestien seien. Sie gingen hauptsächlich dem menscheneigenen Trieb zur Selbsterhaltung und dem Streben zu Integrität nach und opfern dafür sogar ihr eigenes Leben.

Damit wollen sie ihre Angehörigen und ihr Land schützen, so Hilgers. Bei Befragungen von Menschen nach gescheiterten Selbstmordversuchen, stellte er fest, das der Tod nicht als ewiges Ende der Seele empfunden werde. Femer sei häufig die Koppelung von ideologischer und religiös-fanatischer Vorstellungen der Motor für Anschläge wie diesen. Mit dem festen Glauben an eine erfüllte Existenz im Paradies, stürzten sich auch schon Christen in den Tod.

Eine extreme Form dieses Glaubens, abgeleitet von den Selbstmord-Kommandos des japanischen Tenno-Reiches, hätten diese Kamikaze-Piloten übernommen. So könne für sie der Weg zu Ruhm und Ehre auch mittels des „Helden-Todes“ beschritten werden. Auf diese Weise werden nach Hilgers Interpretation „Helden zu Lebenszeiten und darüber hinaus“ geschaffen, die sich mit Attentaten ein Denkmal setzten wollen. Dieses Lebensziel entstehe meist in verschworenen Gruppen von potentiellen Terroristen, in denen man sich mit dem Triumph gegen die Übermacht USA identifizieren möchte. Der Gegner sei der, der durch eine solche Tat entmenschlicht werde und so auch dargestellt wird.

Chemie- und Bio-Angriff

Um gegen terroristische Mächte vorzugehen, müsse man nach Hilgers die Motivation für solches Handeln ergründen und diese austrocknen. Ein Gegenschlag würde die terroristischen Aktivitäten nach seiner Ansicht verzehnfachen. Die Ohnmacht, die ein Opfer gegenüber der Großmacht empfinde, versuche eine Terrorgruppe an dieser mit grenzenloser Härte selbst erfahren zu lassen (z.B. USA). Diese stetigen Angriffe gegeneinander führen dann zu einem Krieg, der schnell aus den Fugen geraten könne. Im Falle der USA sei es nicht angebracht, mit blinder Wut zurückzuschlagen. Gleichermaßen ist es ebenso fatal, nicht zu handeln, weil dies die Terroristengruppen nur stärke. Im Zuge dessen müsse man mit einer Doppelstrategie sowohl gegen einzelne Terroristen, als auch gegen potentielle Nachfolger vorgehen.

Eine außerordentliche Bedrohung stellen dabei sogenannte „Sleeper“ dar, die unauffällig über mehrere Jahre ihr eigenes Leben leben und erst später zum Anschlag geweckt werden; diese müssten genau im Auge behalten werden. Der feinfühlige Umgang mit solchen Organisationen dürfe nicht vernachlässigt werden. Um eben diesen Sleepern ihre Entschlossenheit zu nehmen, sei ein Vorgehen der Behörden notwendig mit dem Ziel, diese von ihrer Organisation zu entfremden. Wenn sich Attentäter nicht mehr mit ihrer Ideologie identifizieren könnten, wäre das friedliche Zusammenleben weitestgehend gesichert. Im anderen Falle ist m.E. gegen intelligente, technisch begabte Selbstmord-Kommandos keine Abwehr, kein Schutz möglich und somit weitaus größere Katastrophen mit hunderttausenden von Toten denkbar (z.B. Kernkraftwerke!).