Die Kreativität der Langeweile

Von unseren Redakteurinnen Alexandra Bieniek und Ramona Meister (25.10.2002 19:43)

Hoffnungsvoll schaue ich auf die Uhr: 8.03 Uhr. Schon drei Minuten zu spät! Vielleicht ist er ja im Schneesturm auf der von Eis spiegelglatten Straße steckengeblieben oder hat sich von seiner sowieso schon überempfindlichen Frau die Grippe geholt und liegt mit Halsschmerzen im Bett. Oder aber …, er ist heute morgen einfach nur schlecht gelaunt aufgewacht, hat seinen Kaffee getrunken und kommt jetzt in unsere Klasse geschlurft; langsam, langweilig und monoton, genauso wie sein Unterricht.

Ist er heute nur schlecht gelaunt?

Seine Schritte werden immer lauter, deutlicher. Kein Zweifel, ich muss heute wieder eine der sich endlos hinziehenden Stunden überstehen, zumal ich nach einer Verkettung unglücklicher Zufälle meine Hausaufgaben nicht bewältigen konnte.
„Guten Mooorgen!“, grüßt er mit seiner gespielten und übertriebenen Fröhlichkeit. Fieberhaft suche ich nach einer Ausrede, die wenigstens halbwegs glaubwürdig klingt. Meine Oma hätte ja (schon wieder ?) Geburtstag haben können. Und auf Grund der überaus zeitaufwändigen Vorbereitungen wäre ich natürlich nicht in der Lage gewesen, meine Hausaufgaben zu erledigen.

Das kann ins Auge gehen!
Quelle: Anne Frinck

Jetzt brauche ich dringender denn je eine gute und überzeugende Ausrede, denn langsam bewegt er sich in meine Richtung, den Blick starr auf mich gerichtet. Ich hätte gestern Abend doch wenigstens die Werbepausen von TV Total nutzen sollen, um zumindest einige der gestellten Fragen zu beantworten.
„Es tut mir leid“, höre ich mich stammeln, „aber ich habe mein Heft zu Hause vergessen.“ Automatisch sinkt meine Aufmerksamkeit auf Null, denn was nun folgt, kenne ich nur zu gut: Eine langweilige Predigt über die undisziplinierte Jugend von heute, die nichts anderes im Kopf hat als das andere Geschlecht oder die Party des kommenden Wochenendes, womit wir auch gleich beim Thema wären.

Das passt doch nicht zusammen!
Quelle: Nick Strong

Aufgeregt hole ich Stift und Block aus der Tasche, um für meine Freundin einen ausführlichen Bericht des letzten Abends zu verfassen. Vielleicht hätte ich Udo gestern Abend doch noch mal anrufen sollen, geht es mir durch den Kopf, während meine Freundin gierig die Informationen meines Briefes verschlingt und antwortet. Wie konnte er mir das nur antun? Bildlich stelle ich mir vor, wie er in den Armen dieser viel zu stark geschminkten Tussy liegt, die er mit den selben kitschigen, aus dem Flirtratgeber auswendig gelernten Sätzen in seinen Bann zieht, mit denen er auch mich um den Finger gewickelt hat.
Frustriert lasse ich meinen Blick durch die Klasse schweifen. Direkt neben einigen uninteressierten Gesichtern schminkt sich Frauke hinter einem Erdkundebuch versteckt, während Knut angestrengt mit seinem Tischnachbarn über die neuesten Fußballergebnisse tuschelt.

Das ist kein nettes Mädchen, sondern eine blöde Tussy!

Rasmus macht seinen besten Freund durch einen sanften Schlag auf den Oberarm darauf aufmerksam, seinen Brief an Wiebke weiterzugeben, die sich intensiv damit beschäftigt, ihren Snake-Rekord zu knacken. Verschwommen nehme ich wahr, wie unser Lehrer den wenigen aufmerksamen Schülern versucht, den Zusammenhang zwischen irgendwelchen merkwürdig klingenden Begriffen zu erklären, die ich niemals zuvor gehört habe. Ich schaue auf die Uhr. Noch 15 Minuten! Ich habe noch ein ganzes Drittel der Stunde vor mir.

Sofort versinke ich wieder in meine Traumwelt. Wie schön wäre es jetzt, wenn… „Ich hab das aber ganz anders gemacht!“, reißt mich unsere Klassenstreberin Andrea-Stefanie aus meinem Traum. Immer muss sie die anderen verbessern und hat zu allem Übel auch meistens Recht! Wie sehr wünsche ich ihr bei der nächsten Mathearbeit einen Starrkrampf in die klobigen Finger; oder dass ihr Boot beim nächsten Ruderwettbewerb umkippt und sie sich ihre behaarten Beine bricht …

Wenn ich nur könnte, wie ich wollte!
Quelle: Nick Strong – Nina Hagen /Umsonst-Postkarte

„Renate, könntest du mir bitte sämtliche Flüsse Deutschlands aufzählen?“, unterbricht mich unser Lehrer bei meinen Racheplänen. Das kann er doch nun wirklich nicht mehr von mir verlangen! Mit einigen Ähhs und Ähhms versuche ich noch etwas Zeit zu gewinnen. Vielleicht habe ich heute etwas Glück und meine Uhr lässt mich nicht im Stich. Nach der müsste es nämlich in wenigen Sekunden klingeln…