Endlich wächst zusammen, was zusammengehört

Von unserem Redakteur Sebastian Szczepaniak (29.04.2004 08:24)

Am 1. Mai 2004 erfährt die Europäische Union die größte Erweiterung ihrer 54-jährigen Geschichte: 10 Länder, Tschechien, Polen, Zypern, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Slowenien und Malta treten der europäischen Staatengemeinschaft bei. Mit der Aufnahme der meist osteuropäischen Länder in die Union fällt auch endgültig der eiserne Vorhang, der den Europäischen Kontinent über 5 Jahrzehnte teilte. Natürlich ist diese Verschiebung von Europas Mitte nach Osten eine Herausforderung, mit der nicht nur die Politiker, Behörden und Grenzschützer zurechtkommen müssen. Denn auch die Bevölkerung – sowohl die des alten als auch des neuen Europas – muss lernen, mit ihr umzugehen.

EU-Übersicht mit den neuen Ländern (orange)

Die Beziehungen zwischen „West“ und „Ost“ stehen seit je her im Schatten von Vorurteilen, Überheblichkeit, Unkenntnis und einer unangenehmen Menge Chauvinismus. Besonders sichtbar wird das beispielsweise an der Beziehung zwischen Deutschland und Polen, das mit 38 Mio. Bewohnern bevölkerungsreichste Neumitglied.
In Deutschlands östlichem Nachbarland gibt es seit jeher Vorbehalte gegen die „Niemcy“, die Deutschen. Die Verbrechen des 20. Jahrhundert sind immer noch nicht vergessen, genauso wenig die Tatsache, das viele Ländereien früher Deutschen gehörten und diese (oder ihre Nachfahren) sie wohlmöglich wiederhaben möchten. Die Angst vor dieser „Landnahme“ ist nur eine von vielen Ängsten und Vorbehalten, die spürbar auf die Meinung der Bevölkerung abfärbt
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Auf geht’s in die neuen Länder

Die Furcht der teilweise noch jungen osteuropäischen Staaten, ihre Identität und Souveränität zu verlieren, treibt viele Wähler, besonders die in den unteren Einkommensklassen, in die Arme von EU-feindlichen Populisten wie Andrzej Lepper, der mit seiner rechtsgerichteten Bauernpartei „Samoobrona“ („Selbstverteidigung“) immer mehr polnische Wählerstimmen gewinnt. Auch konservative Nachrichtenmagazine wie die „Wprost“, die den Lesern wöchentlich neue Schreckensvisionen vom bösen Europa und seinem Doppelkönigtum Deutschland-Frankreich prophezeit, tragen nicht wirklich zu einem entspannten Ausblick auf den EU-Beitritt bei.

Ein paar Sterne fehlen noch

Auch in Deutschland herrscht Skepsis über die neuen Partner. Vor allem im Osten der Republik, in dem es eh seit längerer Zeit an Arbeitsplätzen und Zukunftsperspektiven mangelt, herrscht großes Misstrauen gegenüber den günstigen Arbeitskräften, die nach dem 1. Mai eine gefährliche Konkurrenz zu einheimischen Arbeitsplätzen und Standorten darstellen könnten. So sehen laut einer „Spiegel“-Umfrage 73% der Deutschen in der EU-Erweiterung eine Gefahr für ihren Arbeitsplatz.
Auch die nationalen Probleme der Beitrittsländer, die Kinderkrankheiten der Republiken, die latente Korruption oder gespaltenes Staatsgebiet berechtigen durchaus die Frage, ob die 10 Beitrittsländer allesamt für einen EU-Beitritt geeignet sind.

Natürlich sind sie es! Nach über 2500 Jahren europäischer Geschichte, in denen Herrscher immer wieder erfolglos versucht haben, den geographisch kleinen, historisch und kulturell aber riesigen Kontinent gewaltsam zu einigen, hat erst die Idee der EU, die auf dem friedlichem und engagierten Konsens zwischen den Staaten Europas basiert, wirklich zu einer Einigung geführt. So ist auch nur logisch, dass sowohl der Osten Europas als auch die Inselstaaten des Mittelmeeres nicht von diesem Konsens ausgeschlossen werden dürfen. Alle diese Staaten werden einen wesentlichen Teil zum neuen größeren Europa beitragen, sei es wirtschaftlich, kulturell oder politisch. Selbstverständlich gibt es Probleme und Meinungsverschiedenheiten, doch diese sind ein Grundbestandteil der Demokratie und es wäre töricht, ein kritikloses Hinterherlaufen der selbstbewussten Beitrittsländer zu erwarten. Letzten Endes haben die Bewohner unserer neuen Partner mit dem Referenden bewiesen, dass sie mehrheitlich für den Beitritt in die Europäische Union sind.

Übrigens: Urlauber, die glauben, dass sie diesen Sommer ohne lange Wartezeiten über die Grenze in die neuen EU-Länder kommen, irren. Noch erfüllt keines der Beitrittsländer das Schengener Abkommen für offenen Grenzverkehr. Es dauert eben seine Zeit, dass Europa zusammenwächst. Der 1. Mai ist nur ein Schritt dahin.