Von unserem Redaktionsleiter Zeitung und TV Ulrich Eichler (19.01.2001 18:47)
Ein Kommentar zum Millenniumsjahr. Schwarze Kassen, geheime Konten, verschleierte Kanäle, ein Gespinnst aus Lügen und Widersprüchen – die CDU gerät in einen Parteispendenskandal, deren Hauptverantwortlicher Altbundeskanzler Kohl ist.
Mit der umstrittenen TV-Containershow „Big Brother“ ist die Schmerzgrenze des totalen Voyeurismus noch immer nicht erreicht. Die Programmgestalter haben längst erkannt: TV-Unterhaltung scheint zur Zeit der Renner zu sein und je blöder die Sendung, desto höher die Einschaltquote.
Deutsche „Werte“-Kultur?
Auch die Blödelmaschine Stefan Raab ist in unserer Spaßrepublik mit seinen Musikstücken „Maschendrahtzaun“ oder „Wadde hadde dudde da“ als TV-Entertainer unschlagbar.
Augen- und Gelenkschmerzen diagnostizieren Mediziner durch übertriebene virtuelle Jagd eines Mohrhuhnes auf deutschen PCs. So scheint es, dass wir uns immer noch nicht „zu Tode amüsiert haben?! (Neil Postman).
Erst verprügelt der Welfenprinz Ernst August in Kenia einen unliebsamen Discobesitzer krankenhausreif, und dann degradiert er sich zum Expo-Freiluft-Pinkler: bei einem Besuch der Weltausstellung in Hannover urinierte er vor dem türkischen Pavilon.
Fußballtrainer des Bundesligisten Bayer Leverkusen Christoph Daum soll nach der EM-Pleite als neuer Stern am Fußballhimmel erleuchten und für die Sportjugend als anerkannte Leitfigur aufsteigen. „Zu verschnupft!“, hieß es da plötzlich vom Manager des FC Bayern München Uli Hoeneß, unterstützt vom gnadenlos salbadernden Saubermann „Kaiser“ Franz Beckenbauer. In einer atemberaubenden Geschwindigkeit stürzt der Hoffnungsträger nach einer selbst auferlegten Haaranalyse innerhalb weniger Wochen nahezu ins Nichts.
Einst in Wimbeldon als „Bum-Bum-Boris“ und Shootingstar der Tenniswelt gefeiert, kam Boris Becker mit der Trauung seiner geliebten Babs erst richtig in die Gunst des deutschen Stammtischgeplaudere und Treppenhaustratsches. Das jähe Ende jener scheinbaren Vorzeigeehe verunsicherte bundesrepublikanische Biederfrauen/männer.
Papst Johannes Paul II. empfängt den österreichischen Rechtspopulist Jörg Haider persönlich anlässlich der Übergabe eines Weihnachtsbaumes, selbstverständlich original aus Kärnten für den Vatikanstaat.
Genug der Aufzählung von Menschen, sogenannten Persönlichkeiten oder „Very Important Persons“, die für uns einst einen besonderen Stellen-„Wert“ hatten.
Jedenfalls habe ich mir zum neuen Jahr 2001 gedacht: „Was die gemacht haben, könnte ich mir doch auch mal leisten!“ Also kaufe ich mir endlich einen neuen Porsche, natürlich nur auf Pump, in der Hoffnung, dass es sicherlich keiner merken wird und mir die Finanzierung völlig egal ist. Mit diesem sportlichen Fahrzeug gelten natürlich keine Geschwindigkeitsbegrenzungen, und die Strafanzeigen werfe ich sowieso gleich in den Papierkorb.
Richtig, mit der UMLAUF-Kasse könnte ich noch an der Börse mein Glück probieren. Wenn es schief läuft, kann ich erklären, dass ich für die Schule nur das Beste wollte. Das wäre doch mal was, so richtig gegen den Strich kömmen und in Wild-West-Manier – wie beim heimlichen Treppenabriss auf dem Königsplatz in Kassel – sein neues Leben gestalten wieder in der Hoffnung, dass es mir keiner so richtig Übel nimmt. Außerdem, was sind Werte, die einst mit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland so tiefgreifend propagiert wurden, wirklich noch wert? Breitet sich etwa der Polyp „Werteverlust“ immer weiter aus? Fehlen heute tatsächlich Persönlichkeiten, die nachahmenswerte „Werte“ verkörpern – ich denke da an Gandhi, Martin Luther King oder Sophie Scholl, die durchaus Vorbildcharakter hatten und noch bis heute haben.
Sicher ist, dass die von der Unterhaltungsindustrie aufgepuschten Idole nur kurzlebig sind und keinen nachhaltigen Stellenwert für unsere „Werte“-Orientierung haben werden. Unsere augenfällig nach noch mehr Macht und Verfügungsgewalt strebende politische und wirtschaftliche Szene kann es scheinbar im Moment auch nicht mehr sein, an die sich die jetzige Generation messen könnte.
Was bleibt? Was ist noch ein „Wert“ in unserer Gesellschaft? Euro, Dollar, Yen oder Rubel?
Wachsam bleiben und nicht dem Fatalismus verfallen: „Man kann ja doch nichts (ver)ändern!“ Nein, sich aus Allem rauszuhalten, das ist der beste Nährboden für Idole, die wir bereits aus der Geschichte und wieder in jüngster Zeit erleben: Willkür, Egoismus, Hass und Brutalität.
Kreativität, Engagement mit einer angemessenen Portion „Rebellion“, sowie Verständnis und Veränderung für die Not anderer ist gefragt. Nur diese Eigenschaften garantieren unser Grundrecht auf Leben und Würde.
Ist das nicht der höchste „Wert“?