Wer Gewalt sieht, wird selbst gewalttätig

Von Anina Vetter, Jgst. 11 (07.05.2002 12:28)

Die Bilder der letzten Woche gehen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich fühle mit den SchülerInnen des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt, verfolge die Reaktionen in den Medien und führe Gesprächen mit meinen Freunden und Mitschülern.

Das Gewaltproblem existiert weltweit; Little Town (USA)

Viele beschäftigen sich jetzt mit der Frage, was den Täter dazu gebracht hat, solch eine Tat zu vollbringen, wie ein 19-jähriger Schüler fähig sein kann, solch ein Massaker so präzise zu planen und auch noch umzusetzen. Der Rausschmiss aus seiner Schule ist sicher zu vergleichen mit dem Auslösemechanismus einer schon lange tickenden Zeitbombe.

Vielleicht hätte das schon eine Warnung sein können: Mitschüler beschreiben Robert Steinhäuser zwar als unauffällige, in sich gekehrte Person, der aber seine Zeit nur mit Computerspielen und im Schützenverein verbrachte. Vertrauen zu seinen Eltern hatte er nicht – sie erfuhren erst am Tag des Amoklaufes von dem Schulverweis ihres Sohnes.

Es geht immer um Leben und Tod

Währenddessen überschlagen sich die Medien, welcher Einfluss der entscheidende Anlass für die Tat gewesen ist. Computerspiele, noch vor ein paar Monaten groß angepriesen, werden angeführt. Aber auch Kriegsfilme, Krimis u.ä. werden von Jahr zu Jahr brutaler. Und besonders die privaten Fernsehprogramme ziehen regelmäßig mit sadistischen US-Thrillern in Endzeitstimmung nach. Die Produzenten geben sich die größte Mühe, ihre Produkte immer brutaler, realer und blutiger zu gestalten. Und sie kommen damit an, wie die Werbeeinnahmen zeigen.

Auch im Sport müssen die Darbietungen immer gefährlicher werden: Schumi wäre nicht Schumi, wenn er auf der Rennbahn nicht sein Leben riskieren würde. Die Weltmeisterschaft im Frauenboxen wird als Höhepunkt der Emanzipation gefeiert. Und Wrestlingprofis würde keiner schätzen ohne Verletzungen. Und wenn Thyson ein Ohr abbeißt, dann ist das offiziell ein Skandal, inoffiziell jedoch ist er einfach der „Coolste“.

Und immer intensiver werden von der Film- und Fernsehbranche Kinder und Jugendliche umgarnt – mit unzumutbaren Sendungen, im Fernsehen schon ab 20 Uhr oder noch früher. Dabei drehte es sich letztendlich immer nur um das Eine: Mit Geld Sex ausüben, mit Sex Gewalt und mit Gewalt Geld erzielen.

Das gesellschaftliche Umfeld ist gewalttätig

Natürlich bilden sich so in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen Idole, die nicht wirklich welche sein können. Dass Computerspiele, Fernsehen und Filme solcher Art aggressiv machen, ist immerhin bewiesen. Am Beispiel des Fernsehen ist die Beweislast aber erdrückend, wie es der Biochemiker Hartwig Hanser verdeutlicht: „Wer Gewalt sieht, wird selbst gewalttätig. Vor allem Kinder im Grundschulalter sind besonders beeinflussbar – und der Effekt hält bis ins Erwachsenenalter an. Unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen fiktiven und realen Bildern.“ (1)

Muss also erst ein Drama wie in Erfurt eintreten, bis die Politiker die zahlreichen Warnungen von Psychologen und Erziehungswissenschaftler ernst nehmen, bis den Konzerne die Einsicht kommt? Die beabsichtigten Maßnahmen der Politiker geben Anlass zur Hoffnung. Ob damit aber die Unterhaltungsindustrie auf Dauer mitzieht, wage ich zu bezweifeln. Schließlich geht es hier um Milliardengewinne, Arbeitsplätze und Millionengehälter. Das Gedächtnis der Menschen ist kurz.

(1) Spitzer, M.: Gewalt im Fernsehen: Wie dürfen nicht zuschauen! In: Geist, Gehirn & Nervenheilkunde. Stuttgart 2000; zit. aus: Spektrum der Wissenschaft, Sonderheft Gehirn & Geist, Nr.2/2002, S.35