Wir können uns keine Kinder leisten

Von unserer Mitarbeiterin Miriam Toursel (23.09.2006 00:50)

In Deutschland ist die Geburtenraten stark rückläufig. Dies liegt vor allem an der sozialen Unsicherheit. Niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit, Partnerkampf und ein lückenhaftes Sozialsystem lösen bei jungen Paaren Angst aus. „Wir können uns keine Kinder leisten“ ist eine oft gehörte Antwort auf die Frage der Kinderlosigkeit. Doch wie hängen eine alternde Gesellschaft, ein unzureichendes Sozialsystem und Kinderarmut zusammen? Letztendlich kann man Kinderlosigkeit als signifikante Konsequenz der Armut betrachten und dort, wo Armut Familien betrifft, sind es meist die Kinder, die darunter leiden.

7900 Fähnchen auf dem Friedrichplatz stehen für…

Aber ab wann gilt man als arm? Nach EU-Definition ist arm, wer weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient. Insgesamt sind demnach in den 24 OECD-Staaten über 45 Millionen Kinder von dieser Definition betroffen. Eine UNICEF-Studie vom Juni 2005 zeigte, dass sich trotz der 1990 beschlossenen UN-Konvention über die Rechte des Kindes mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen dieser sich die Situation in 17 von 24 OECD-Staaten verschlechtert hat.

… die armen Kinde in Kassel.

In keinem Land ist aber die Kinderarmut seit 1990 stärker gestiegen als in Deutschland. Bei uns lebt jedes zehnte Kind in Armut. Dagegen liegt die Kinderarmut in Dänemark und Finnland unter 3 Prozent. Doch wo liegen die Ursachen für diese gravierenden Unterschiede? Geben die Länder eventuell unterschiedlich viel für Sozialleistungen aus?
Die Antwort ist nein. Zehn OECD-Staaten – darunter auch Deutschland – geben einen ungefähr gleich hohen Anteil ihres Bruttoinlandproduktes für die soziale Absicherung von Familien aus. Trotzdem gibt es zwischen diesen Ländern erhebliche Unterschiede bei der Armutsrate. Doch woran liegt es dann?

7900 Fähnchen

Viel hängt von der Art und Weise sowie der Priorität der Unterstützung ab. Viele Länder investieren überproportional in den Bereichen Arbeitslosigkeit und Renten, andere wie Skandinavien unterstützen neben einer höheren Arbeitsmarktförderung vor allem junge Familien. Besonders durch ausgedehnte Betreuungs- und Bildungsmaßnahmen helfen skandinavische Länder Eltern und Kindern. So hat z.B. jedes Kind – auch unter 3 Jahren – staatliches Anrecht auf pädagogische Betreuung.
Dadurch hatte auch Svea Olson als allein erziehende Mutter von zwei Kindern die Möglichkeit, recht früh nach der Geburt ihres zweiten Kindes wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Ihre beiden Kinder werden von einer Tagesmutter betreut. Diese hätte sie ohne staatliche Hilfe nicht bezahlen könne, denn bis zu 90% der Kosten werden von den Kommunen getragen.

Gerade für Alleinerziehende sind ausgebaute Betreuungsangebote ein Anreiz, sich wieder aktiv am Arbeitsmarkt zu beteiligen. Wenn man nun bedenkt, dass eine Risikogruppe der Kinderarmut bei den Kindern Alleinerziehender auszumachen ist, wächst die Bedeutung der Betreuung umso mehr.
Doch wie kann man dem nun entgegenwirken? Könnte es nicht denkbar sein, jedem Kind auch unter drei Jahren in Deutschland einen staatlichen Betreuungsplatz zuzusprechen,so wie es in Frankreich schon lange der Fall ist? Wäre es nicht sinnvoll, den Weg skandinavischer Ländern zu beschreiten und den sozialen Schwerpunkt auf die junge Gesellschaft und nicht hauptsächlich auf ein gescheiteres Renten- und bürokratisches Gesundheitssystem zu legen? Sind es nicht die Kinder, die einmal die Rentenkassen speisen sollen?

Wie eine ungewöhnliche Blumenlandschaft

Sollte es denn etwa nicht möglich sein, junge Eltern einen schnellen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt über staatlich geförderte (Früh-) Kindbetreuung und Arbeitsplatzsicherung zu ermöglichen? Sollte man es etwa nicht schaffen können in Deutschland einen flexiblen, sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen und Arbeitslosigkeit vorzubeugen? In den Kindern ruht die Zukunft einer Gesellschaft und somit ist es traurig, dass sie anscheinend in unserer Gesellschaft nicht die nötige Priorität haben.

Behälter für leere Druckerpatronen, Laserdruckerkartuschen und alte Handys

So bleibt unsere reiche Gesellschaft im Großen und Ganzen auf dem Stand einer punktuellen Flickschusterei. Auch Gymnasien sind davon betroffen. Einzelne, oft begabte Schülerinnen und Schüler wollen an Klassen- oder Kursfahrten nicht mehr teilnehmen. Manchmal sind es religiöse Vorbehalte, häufig aber auch finanzielle Gründe. An unserer Schule gibt es dafür den Fond „Schüler helfen Schülern“, der unter anderem durch das Sammeln von leeren Druckerpatronen finanziert wird.

Ost-West-Gefälle

Der Deutsche Kinderschutzbund fordert daher einen Kurswechsel der Politik, um den gegenwärtig 2,2 Millionen Kindern auf Sozialhilfeniveau sofort umfassende Hilfe und Unterstützung bereitzustellen. Die Aktion auf den Friedrichsplatz in Kassel am 20. September 2006 zeigt mit 7900 blauen Fähnchen – ähnlich wie in vielen anderen deutschen Städten – die Anzahl der Kinder und Jugendlichen in Kassel, die von Kinderarmut betroffen sind: Eine Situation, die betroffen macht!