Von Manuel Konrath, 10b (29.05.2002 18:48)
Ich bin 16 Jahre alt und gehe in die 10. Klasse des GG (Goethegymnasium). Vor zwei Monaten nahm ich mit sieben Mitschülern an einem Schüleraustausch in den USA teil. Dieser Schüleraustausch wird jährlich den zehnten Klassen unserer Schule angeboten. Vermittelt wurde der Austausch von der Friendship Connection und von Merican Reisen und kostet 1000 €.
Alle Jugendliche wurden in den Mittleren Westen der USA vermittelt, vornehmlich in den Bundesstaat Ohio. Die Gastfamilien hatten alle Kinder im gleichen Alter wie wir. Die Vermittlung durch die beiden Organisationen ist m.E. ziemlich gut gewesen, da die jeweiligen Austauschpartner ähnliche Interessen hatten wie wir, was die Grundlage für eine Freundschaft ist. Außerdem haben sich fast alle Familien rührend um die Schüler aus Deutschland gekümmert.
Ich wurde nach Cleveland/Ohio vermittelt. Cleveland hat ca. 1 Million Einwohner und liegt am Eriesee, einem der fünf großen Seen im Norden der USA. Drei von vier Wochen hatte ich das Glück, den Unterricht an einer amerikanischen Highschool zu besuchen. Es war eine reine Jungenschule, die hauptsächlich von Benediktinermönchen geleitet wurde. Das hört sich vielleicht etwas streng und spießig an, doch es war eine freundliche und recht lockere Atmosphäre. Die Highschool umfasst die Schuljahre 9 bis 12, d.h. die Schüler verbringen dort mindestens vier Jahre. Es gibt einige gute Ideen, die man auch an unserer Schule einführen könnte. Zum Beispiel hängen an den Wänden der Schule Fotos von allen Abschlussklassen, d.h. von jedem Absolventen seit dem Gründungsjahr 1927 mit dem zugehörigen Klassenlehrer. Das ist m.E. nach ein sehr schöner Brauch. Außerdem werden den Schülern deutlich mehr Sportarten angeboten. An der Benedictine Highschool gibt es Basketball, Baseball, Eishockey, Football, Leichtathletik, Lacrosse (ein Spiel ähnlich Feldhockey), Ringen, Fußball, Bowling und Golf.
Die Ausrüstung der Schule ist wegen des hohen Schul-Budgets sehr gut. Jeder Klassenraum hat Computer mit Internetanschluss und Fernseher. Zudem gibt es noch Computerräume auf dem allerneusten Stand mit bis zu 30 PCs. Die Bücherei der Schule ist ziemlich groß, und die Bücher stehen jedem Schüler zur Verfügung. Auch in den naturwissenschaftlichen Fachbereichen ist die Schule besser ausgestattet als unsere. Im Physik-Hörsaal stand z.B. ein zwei Meter langes Flatscreen, das an einem Beamer angeschlossen war und auf dem der Lehrer Zeichnungen digital auftragen konnte. In der Biologie steht ein eigenes Gewächshaus zur Verfügung mit vielen verschiedenen Pflanzen, an denen Studien durchgeführt werden können. Die erforderlichen Mikroskope waren nicht nur im besten Zustand, sondern auch in großer Zahl vorhanden.
Die Schüler absolvieren neun Stunden pro Tag. Es gibt keinen Klassenverband, jeder wählt die Kurse, die man belegen möchte. Die dreiminütigen Pausen zwischen den einzelnen Stunden reichen auch nur dazu aus, um zum eigenen Schließfach und von dort aus zum nächsten Raum zu laufen. Denn in den USA wechseln nicht die Lehrer, sondern die Schüler die Räume. Deshalb haben die Schüler während der Schule kaum Gelegenheit, frische Luft zu schnappen oder etwas zu trinken, was bekanntlich für Konzentration und Aufmerksamkeit sinnvoll ist. Eine große Pause von etwa einer Schulstunde (40 Minuten) haben die Schüler nur gegen Mittag. Hier ist die einzige Gelegenheit etwas zu trinken. Zudem machen die Schüler ihre Hausaufgaben und nehmen eine große Mahlzeit zu sich. Und im letzteren Punkt liegt m.E. auch ein ernstzunehmendes Problem. Es ist bewiesen, dass die Denkleistung des menschlichen Gehirns nach einer ausgiebigen Mahlzeit stark absinkt, da es mehr Energie zum Verdauen aufwendet. Jeder kann sich wohl ausmalen, wie es dann mit den letzten drei oder vier Stunden aussieht.
Die beste Austattung bringt wenig, wenn die Lehrmethoden veraltet sind. Die mündliche Note zählt kaum, die Abschlusstests am Ende des Halbjahres machen den größten Anteil der Note aus. Wer somit bei diesem Test einen schlechten Tag hatte, hat gleichzeitig auch ein schlechtes Jahr erwischt. In einem Test wird weder die eigene Meinung, eine eigenständige Interpretation oder ein Beweis zu einem naturwissenschaftlichen Problem verlangt. Wer die Fakten knallhart auswendig lernt, wird kaum Schwierigkeiten bekommen. Einer der Lehrer sagte mir: „Du musst nur wissen, was in dem Buch steht, du musst nicht wissen, was der Inhalt bedeutet. Dazu bin ich da.“
Dieser Satz steht signifikant für das amerikanische Schulsystem. Damit stellt sich für mich die Frage, ob die deutschen Schüler bezogen auf den PISA-Schock wirklich so ungebildet sind. Die Leistungsunterschiede zum deutschen Schulsystem sind auf jeden Fall gravierend – im negativen Sinne. Als einer meiner deutschen Lehrer mich nach der Rückkehr fragte, warum die meisten Top-Wissenschaftler aus den USA kämen, konnte ich ihm keine Antwort geben. Es war mir selbst ein Rätsel. Natürlich kann man den dreiwöchigen Eindruck von einer Schule nicht für alle anderen Schulen des Landes verallgemeinern, doch da es sich um eine angesehene Schule handelte, bei der die Eltern über 5000 $ jährlich Schulgeld bezahlen, ist dieser einmalige Eindruck für mich schon symtomatisch.