#Me too und die Generation Schokokuss

Anders als die meisten Wetterphänomene kam die Welle der Berichte von sexueller Gewalt im Oktober 2017 nicht aus dem Nichts. Während sie aber in den USA immer noch Kreise zieht, scheint sie in Deutschland größtenteils verebbt. Besonders deutlich wird das im jüngsten Beispiel im Rahmen der Debatte um die Anschuldigungen gegen den Regisseur und Drehbuchautor Dieter Wedel. Führten Berichte über den Machtmissbrauch von Regisseuren gegenüber Schauspielerinnen und Schauspielern in den USA zu erhitzten Debatten, beschränkten sich die Berichte in Deutschland auf Einzelfälle.

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Stattdessen beschweren sich interessanterweise heute dieselben Menschen, die sich im Januar 2016 so um das Wohl der deutschen Frauen sorgten, über eine übertriebene „Hetzjagd“ auf Männer im Rahmen der MeToo-Debatte. Mit Recht? Nachdem der amerikanische Filmproduzenten Harvey Weinstein im Herbst 2017 von mehreren Schauspielerinnen der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung bezichtigt worden war, veröffentlichten immer mehr Frauen und auch einige Männer auf sozialen Medien wie Twitter ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt unter dem Hashtag #MeToo. Dabei häuften sich besonders die Berichte über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. 

Kritiker von #MeToo, unter ihnen die französische Schauspielerin Catherine Deneuve, argumentieren, die Bewegung trage dazu bei, auch triviale Begegnung zwischen Männern und Frauen zu verteufeln und so zu einer verkrampften und altmodischen Geschlechterordnung zurückführen. Die Flut und Vielfalt der Erfahrungen, die an die Öffentlichkeit gelangten, kann es sicherlich erschweren, die Grenze zwischen alltäglichen, harmlosen Situationen und sexueller Belästigung zu erkennen. Darf man Frauen also keine Komplimente mehr machen? Werden anzügliche Witze und Flirtereien in Zukunft verboten? Müssen Chefs beim Gespräch mit ihren Mitarbeiterinnen die Tür auflassen? Solche Reaktionen entstanden nicht nur im Rahmen der MeToo-Bewegung, sie sind typisch für die Angst, die politische Korrektheit würde die individuelle Freiheit zu stark beschränken.

Immer mehr Menschen scheinen das Gefühl zu haben, sie würden durch eine zunehmend liberale Gesellschaft langsam in die Enge getrieben oder dazu gezwungen, ihre persönlichen Werte aufzugeben. Zuerst darf man neuerdings nur noch „Schokokuss“ sagen, dann ist Pippi Langstrumpfs Vater plötzlich „Südseekönig“ statt zuvor „Negerkönig“, und jetzt muss man sich auch noch über Machtverhältnisse, Gewalt und Geschlechterrollen Gedanken machen, wenn man eine Frau im Club anspricht – solche Kommentare sind häufig eine Trotzreaktion auf das ungute Gefühl, dass bestehende soziale Ordnungen in Frage gestellt werden und die dominante Gruppe einen Teil ihrer Privilegien verliert. Denn bei Diskriminierung, Sexismus und Gewalt geht es immer auch um ein bestehendes ungleiches Mächteverhältnis zwischen den Beteiligten, und eben nicht nur um Flirten und Schokoküsse, auch wenn sich die öffentliche Debatte an diesen Themen gerne festbeißt.

Beim Versuch, das bestehende Mächteungleichgewicht zu korrigieren, wie im Rahmen der MeToo-Kampagne, gelangen Stimmen ins Zentrum der öffentlichen Debatte, die lange unterdrückt worden sind. Daher ist auch verständlich, warum sich eine solche Flut an Berichten – und mit ihnen jahrzehntelang aufgestaute Frustration – so radikal entlädt. Dieser Prozess stellt keine Freiheitsbeschränkung dar und führt auch zu keiner solchen, sondern ist ein Mittel, bestehende soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Denn das Recht auf Freiheit beinhaltet nicht, andere ohne Konsequenzen zu beleidigen, zu demütigen oder zu missbrauchen.

Die MeToo-Bewegung ist sicher nicht gegen jeden Vorwurf erhaben, so tut sie z.B. noch eher wenig, um für die Rechte männlicher Opfer von sexueller Gewalt zu kämpfen, und auch Trittbrettfahrer können sich nur zu leicht auf den Zug der Anklagewelle aufschwingen. Doch sind solche Bewegungen und Debatten von enormer Wichtigkeit, da Respekt, Menschenwürde und Gleichberechtigung oftmals faktisch bestehen, im Alltag aber mit Füßen getreten werden. Fangen Sexismus und Herabstufung nicht schon bei einem Mottowochen-Thema der Abiturientinnen und Abiturienten an, das „Nutte und Zuhälter“ heißt? Oder in Heidi Klums Show „GNTM“, in der es als „charakterbildend“ bezeichnet wird, wenn die leicht bekleideten Kandidatinnen ertragen müssen, dass ein wildfremder nackter Mann sein Genital an sie presst? Das sind nur zwei Beispiele, die uns hoffen lassen, dass Bewegungen wie „MeToo“ weiterhin bestehen, solange sie (leider) nötig sind.