Projekt „Zeitzeugenbegegnung“: Treffen mit Holocaust-Überlebenden

Von unserer Französisch- und Russischlehrerin Rahel Wolf 

Im Juli 2014 fand ein außergewöhnliches Treffen statt: Schüler des Russischkurses der Q2 des Goethe-Gymnasiums trafen sich in den Räumlichkeiten des PSH-Pflegedienstes mit Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Kassel sowie zwei Holocaust-Überlebenden, Herrn Craizler und Herrn Beylkin. Im Unterricht behandelten wir gerade das Thema Krieg und setzten uns in diesem Zusammenhang mit dem Holocaust auseinander. Die direkte Begegnung mit Holocaust-Überlebenden sollte die  Geschehnisse in eindrucksvoll lebendiger Weise vermitteln, was ein Lehrbuchtext niemals leisten könnte.

hauptbild wolf
Die Holocaust-Überlebenden Mordko Craizler (links) und Michail Beylkin mit meinen Schülern des Russischkurses der Q2 des Goethe-Gymnasiums sowie Elena Padva (von links): Daniel Dück, Anton Brushkivskyy Lena Chyzhenko, Frau Wolf, Anna Engel, Frau Padva, Erika Kraus, Kristina Firsova, Artur Morozov und Dennis Frank

„Zwar wusste ich schon einiges darüber aus Büchern und aus dem Geschichtsunterricht, doch es war etwas komplett anderes, es aus den Mündern der Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges zu hören“ (Lena Chyzhenko nach unserem Besuch). Da die Gespräche mit den Zeitzeugen auf Russisch geführt wurden, wurde die Authentizität der Begegnung zusätzlich unterstrichen.

Um im Vorfeld für die Begegnung zu sensibilisieren, hatten uns Frau Elena Padva und Herr Alexander Katz im Unterricht besucht und mögliche Verhaltensweisen der zu Befragenden erläutert. Nach nur wenigen Schilderungen war uns nur allzu deutlich: Die Begegnung würde sehr viel Fingerspitzengefühl erfordern. Entsprechend waren vor der eigentlichen Begegnung alle ziemlich nervös: „Ich hatte ein wenig Angst davor und war deshalb sehr aufgeregt, weswegen ich mich sogar versprochen habe. Doch als die Herren angefangen haben zu reden und von sich zu erzählen, ist die Anspannung allmählich verschwunden“ (Lena Chyzhenko).

Im Anschluss an ein gemeinsames durch die Schüler vorbereitetes Frühstück mit Kennenlern-Runde gaben die beiden Zeitzeugen ihre Lebensberichte, die von der Gruppe mit großem Interesse verfolgt wurden. Von Herrn Mordko Craizler, geboren in der Ukraine, erfuhren wir, dass er zwei Jahre alt war, als der Krieg begann. Von 1941 bis 1944 befand er sich mit seiner Familie im Ghetto. Was dort geschah, weiß er hauptsächlich durch die Schilderungen seiner Angehörigen.

einleitungBild 2Herr Michail Beylkin (*1919) – die Schüler durften ihn „Djadja Mischa“ (Onkel Mischa) nennen – befand sich als russischer Soldat von 1941 bis 1945 in deutscher Kriegsgefangenschaft, hier u.a. auch lange in Hamburg. Die ganze Zeit über musste er verheimlichen, dass er Jude, Kommunist und Offizier war. Nach dem Krieg kehrte er nach Russland zurück und arbeitete in einer Fabrik. Im Anschluss an die Lebensberichte stellte die Gruppe die im Unterricht für ein Interview vorbereiteten Fragen: „Wie sah ein typischer Tagesablauf im Ghetto aus? Gab es auch schöne Erlebnisse zu Zeiten des Krieges, an die Sie sich erinnern? Zu welcher Fußballmannschaft halten Sie?“

In einem weiteren Programmpunkt berichtete Frau Ilana Katz, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kassel und Leiterin des Pflegedienstes, von der Veranstaltung „Steps for life“ in Riga. Diese hatte in der Woche zuvor dort stattgefunden, und sie hatte persönlich daran teilgenommen (https://www.youtube.com/watch?v=TJJHRAQr88w). Die Bewegung „Steps for life“ greift die Idee der Bewegung „Marsch des Lebens“ auf, welche die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden begonnenen „Todesmärsche“ als letztem Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords brandmarkt. Gedenk- und Versöhnungsmärsche an Orten des Holocaust sollen praktiziert werden als Zeichen gegen alten und neuen Antisemitismus, gegen das Vergessen, zur Versöhnung zwischen Nachkommen der Opfer- und Tätergeneration. Es gilt, die Vergangenheit aufzuarbeiten und Zeichen zu setzen. An die Stelle von Tod und Zerstörung sollen Leben und Hoffnung treten.

Trotz der Schwere der Thematik herrschte die ganze Zeit über eine gelöste Atmosphäre und „man hatte das Gefühl, dass man sich schon länger kennt“ (Kristina Firsova). Einen nicht unerheblichen Anteil an dieser besonderen Stimmung hatten musikalische Liedbeiträge. Besonders eindrucksvoll waren die jiddischen Lieder aus dem Ghetto, gesungen von Frau Padva (https://www.youtube.com/watch?v=TJJHRAQr88w) und Herrn Craizler.

Das Zusammentreffen verschiedener Kulturen, Religionen und Generationen – der Älteste 96, die Jüngsten 17 Jahre alt – war ein nachhaltig prägendes Erlebnis. „Einige Sachen haben mich sogar so sehr schockiert bzw. erstaunt, dass ich Gänsehaut bekommen habe“ (Lena Chyzhenko). Von „aufregend“, „spannend“, „beeindruckend“ bis „ergreifend“ lauteten die abschließenden Kommentare der Schüler. „Dieses schreckliche Ereignis kann man nicht vergessen, und man sollte definitiv so etwas verhindern in der Zukunft, und das hat das Treffen noch einmal verdeutlicht“ (Anton Brushkivskyy). „Was mich auch sehr fasziniert hat, ist, dass die beiden Männer reinsten Gewissens in Deutschland leben können, ohne jegliche negative Gedanken zu haben. Das bewundere ich wirklich sehr“ (Lena Chyzhenko).

Die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen zeigen allerdings, dass ein echter Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen besonders wichtig wäre: Es gilt, das Verbindende zu suchen, damit das Trennende nicht immer wieder zu Vorurteilen, Hass und unsinniger Vernichtung menschlichen Lebens führt. – Die Schülerinnen und Schüler des Russischkurses wollen in Zukunft noch bewusster Wertschätzung und Respekt denjenigen gegenüber zum Ausdruck bringen, die so unsagbar Schreckliches miterleben und oft auch selbst erleiden mussten: „Ich begegne diesen Leuten mit großem Respekt, weil sie Vertreter einer Generation sind, die den Holocaust überlebt hat und die es schon bald nicht mehr geben wird“ (Artur Morozov).

Abschießend möchte ich mich bei meinen Kursteilnehmern für ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der Thematik und für ihre Feinfühligkeit im Umgang mit den älteren Herren bedanken. Damit hat jeder Einzelne seinen ganz persönlichen Beitrag zum Gelingen dieses Unternehmens geleistet.