„Unterricht wäre eine spannende Alternative“

Der Schulhof ist wie ausgestorben. Es wird noch eine Stunde bis zur großen Pause dauern, doch bis dahin bin ich allein. Ich lasse meinen Blick über die schmutzig-grüne Fassade des großen Gebäudes schweifen. Hinter den hohen Fenstern sitzen Schüler und schauen gelangweilt geradeaus. Was sie wohl sehen? Ich würde es gerne wissen, aber wohl nie erfahren.

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Das bin ich!

Vor ein paar Monaten haben sich zwei Schülerinnen auf mir über die Klassenräume unterhalten. Seitdem vertreibe ich mir die Zeit mit der Vorstellung, wie es sein würde, durch die schwere Tür ins Innere zu treten und die Schule zu erkunden. Manchmal bin ich aber auch in Amerika, in der Sporthalle oder beim Rudern. Jedenfalls in Gedanken. Mich ergreift ein schwermütiges Gefühl, wenn ich daran denke, dass ich niemals diese Orte wirklich sehen werde. Ich kann hier ja nicht weg. Schon seit Jahren stehe ich hier auf dem Schulhof des Goethe-Gymnasiums, immer an derselben Stelle. Unterricht wäre eine spannende Alternative!

Mein Blick wandert weiter und bleibt an einer der vielen Pfützen auf dem unebenen Beton hängen. Vereinzelte Regentropfen lassen stellenweise mein Spiegelbild verschwimmen und kaschieren für ein paar Sekunden lang meine abgeblätterte Farbe, die Kaugummis an meiner Unterseite und eingeritzte Namen von Schülern, die längst ihr Abitur gemacht haben. Ich bin nichts Besonderes, nur eine alte Bank. Morsche Sitzgelegenheiten wie mich findest du überall. Aber nur wenige können so viele Geschichten aus ihrem Leben erzählen wie ich.

 

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Das grüne Gebäude

Unterschiedlichste Dinge werden auf mir besprochen. Keinem ist aber bewusst, dass noch jemand zuhört. Die Menschen wissen einfach nicht, dass selbst alte Holzbänke so etwas wie ein Bewusstsein haben. Nur manchmal spürt es jemand, der auf einem Flohmarkt ein uraltes Möbelstück gefunden hat und sagt, dass dieser Gegenstand irgendwie eine Seele besitzt. 

Die Personen, die diese Schule bevölkern, verändern sich mit den Jahren. Alte gehen, neue kommen hinzu. Nur die Schule selbst mit ihren Gebäuden, Pflanzen und Gegenständen hat Bestand. Wir sind diejenigen, die all diese Menschen im Gedächtnis behalten.

Ich kann mich noch an jeden einzelnen Schüler, der sich auf mir niedergelassen hat, erinnern. Als Fünftklässler nach der Einschulung, verunsichert von dem vielen Neuen, meist noch allein. Später zusammen mit Freunden.
Viele fröhliche, lustige, aber manchmal auch traurige Gespräche wurden auf mir geführt. Auf mir wurden Vokabeln gelernt, es wurde heimlich mit dem Handy gespielt oder das Schulbrot gegessen. Oft kann ich kaum glauben, dass der junge Mann in der Oberstufe, der zusammen mit seiner Freundin auf mir sitzt, einst der verängstigte Fünftklässler war, der sich mit Bauchschmerzen vor Aufregung auf mich gehockt hat.

Ein Lehrer hat, kurz bevor er neulich in den Ruhestand gegangen ist, gesagt: „Kinder, wie die Zeit vergeht.“ Dem kann ich nur zustimmen und hoffen, dass ich noch viele weitere Jahre hier an derselben Stelle wie immer stehen und das bunte Schultreiben beobachten darf!

Der Jahreswechsel ist vorbei und das neue Halbjahr steht vor der Tür. Viele junge Menschen werden das Goethe-Gymnasium mit ihrem Abitur in der Tasche verlassen.

Ob ich darüber traurig bin? Ja. Trotzdem wird dieses Gefühl schnell von freudiger Erwartung übertönt. Denn die neuen Fünftklässler sind nur noch ein halbes Jahr entfernt und dann beginnt der Kreislauf beginnt von vorn.

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Noch bin ich leer