Gottes kleine Faust – Kapitel 10: Panik pur

Anna und Angie lagen auf dem Rücken und starrten die Decke an. Der flauschige Teppich wärmte wunderbar. Sie fühlten sich wunderbar. Zu zweit einem Geheimnis auf der Spur zu sein, war ein großartiges Gefühl.

Wie ein Traum, dachte Angie. Aber es war ein schöner Traum, da war sie sich sicher. Anna hatte sie nicht ausgelacht. Ganz im Gegenteil! Sie hatte ihr aufmerksam zugehört und teilte nun mit ihr das große Geheimnis. Und da wartete noch mehr. Das spürte sie ganz sicher.

„Ich möchte ihn auch treffen!“
„Wen?“ fragte Angie. „Thomas?“
„Quatsch! Matthias natürlich.“

Angie wollte gerade antworten, da fiel ihr Blick auf eine Spinne, die hektisch an der Zimmerdecke krabbelte. Woher sie gekrochen kam, wusste Angie nicht. Die Spinne war plötzlich da und lief mit großer Zielstrebigkeit auf ein Netz zu, dass Angie noch gar nicht bemerkt hatte. Es war nur klein und zwischen Zimmerlampe und Lampenfassung gewebt. Eine hilflose Fliege zappelte dort im Netz.

Da passierte es.

Angie fühlte plötzlich eine gewaltige Bedrohung von der Spinne ausgehen, als wäre sie das Schlimmste, was Angie jemals in ihrem Leben gesehen hatte.
Je näher die Spinne der kleinen Fliege kam, desto verzweifelter wurden ihre Bewegungen. Und je hektischer sich die Fliege bewegte, desto hoffnungsloser verstrickte sie sich in ihrer Todesfalle. Im Nu war sie völlig gefesselt und bewegungsunfähig. Chancenlos erstarben ihre verzweifelten Versuche, der Spinne noch zu entkommen.
Es gab kein Entrinnen mehr. Unaufhaltsam krochen die vielen Beine der Spinne auf die Fliege im Netz zu.

Angie schrie laut auf!
Bevor sie auch nur in irgendeiner Art nachdenken konnte, explodierte eine unaufhaltsame Wut in ihr. Selten war sie so zornig gewesen. Eine ungeheure Energieflut strömte durch ihren Körper. Im Bruchteil einer Sekunde sprang Angie auf. Sie rannte zum Schreibtisch, schnappte sich irgendein Heft, griff sich den Stuhl und zog ihn unter die Deckenleuchte. Dann sprang sie mit einem Satz hinauf, streckte sich so weit sie konnte und befreite in letzter Sekunde die Fliege, vor dem qualvollen Tod.

Das verlief alles so blitzschnell, dass Anna davon völlig überrascht wurde und sie einen Riesenschrecken bekam. Auch Angie war überrascht. Sie war so reflexartig aufgesprungen, dass sie erst jetzt realisierte, was passiert war.
Sie wachte wie aus einer Art Trance auf, als entdeckte sie jetzt erst, wo sie sich befand. Sie stand noch immer auf dem Stuhl mitten im Zimmer. Zitternd und hastig atmend. Sie bemerkte das Heft in ihrer Hand, an dem noch Fetzen des Spinnennetzes schwebten. Und sie bemerkte erst jetzt, welche gigantische Welle der Wut durch ihren Körper gerollt war. Nun verebbte diese Wut und ließ Angie beinahe hilflos und allein auf dem Stuhl in der Mitte des Zimmers zurück.

 

Bei Anna kam erst jetzt die Wut. Sie hatte sich ganz furchtbar erschreckt und der Schreck hatte sie gelähmt.

„Sag mal hast du ´nen Knall?“ sprang sie schimpfend auf. Ihre geballten Fäuste stemmte sie empört in die Seiten. „Willst du mich umbringen? Ich habe mich zu Tode erschreckt!“

„Hast du die Spinne gesehen?“ stammelte Angie tonlos.
„Ja. Na und? Ich denke du magst Spinnen. Du bist doch die von uns beiden, die Spinnen auf Jeans malt. Ich fürchte mich vor Spinnen!“
Sie beruhigte sich nur langsam. Aber sie spürte mit einem Male, dass mit Angie etwas nicht stimmte. Und deutlich leiser sagte sie
„Nun mach schon. Komm da wieder runter.“

Angie zuckte zusammen. So als ob sie von allein nicht auf die Idee gekommen wäre. Der Gedanke vom Stuhl zu steigen, überraschte sie. Was hatte sie hier oben gemacht? Ihr Blick fiel auf das Heft, dass sie geknickt in der Hand hielt. Unsicher kletterte sie wieder hinunter. Ihr war, als ob sie von einer großen Höhe zurückkehrte. Ihr war kalt. Sie zitterte am ganzen Leib.

Anna merkte jetzt überdeutlich, dass mit Angie etwas nicht in Ordnung war. So hatte sie ihre Freundin noch nicht erlebt. Schon gar nicht beim Umgang mit Spinnen. Die waren immer ihre große Leidenschaft gewesen. Niemand fürchtete sich weniger vor Spinnen als Angie. Das stand fest. Fest stand aber auch, dass Angie jetzt zitterte wie Espenlaub. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn.

„Bist du krank? Fühlst du dich nicht wohl?“
„Ich weiß nicht so genau“, antwortete Angie und sah Anna hilfesuchend an. „Ich habe die Spinne gesehen und plötzlich musste ich daran denken, was Matthias gesagt hatte.“

Matthias! Was hatte Matthias mit der Spinne an ihrer Lampe zu tun? Anna führte Angie hinüber zum Sofa, weit genug weg von der Spinne, die wieder verschwunden war. Angie blickte zurück und suchte noch immer ängstlich die Zimmerdecke ab. Die Spinne war nicht mehr zu sehen. Anna hakte nach:

„Was hat Matthias über die Spinne gesagt?“
„Er erzählte mir eine Art Vergleich“, begann Angie und drückte sich dicht an ihre Freundin. „Er sagte, dass das Böse wie eine Spinne ist.“
Jetzt sah Anna sie mit unsicheren Augen an. Was redete Angie da? Das Böse…., atemlos hörte sie zu.

„Diese Spinne versucht, die ganze Welt in ihr Netz zu verwickeln, hörst du? Und wir Engel müssen das verhindern!“
Ihr Sprechtempo war auf einmal wieder wild und hektisch geworden. Doch kaum hatte sie „wir Engel“ über die Lippen gestoßen, da stockte Angie erschreckt. Hatte sie das selbst gerade gesagt: wir Engel?

Sie schaute sich um, als ob sie fürchtete, dass jemand mitgehört habe. War Matthias wieder da? Nein. Nur Anna war im Raum. Sie legte beide Hände auf Angies Schultern und schaute geradewegs in ihre Augen. Dann sagte sie
„Mensch Angie! Du steckst ja tiefer drin, als ich dachte!“

Eigentlich hatte sie etwas Beruhigendes sagen wollen. Das war ihr gründlich misslungen! Ihre Stimme hatte alles andere als beruhigend geklungen. Geradezu besorgt.

„Als ich die Spinne sah“, fuhr Angie langsam fort, als müsste sie jedes Wort Probe sprechen, „da habe ich plötzlich an das denken müssen, was Matthias über das Böse gesagt hat. Ich hatte es schon wieder ganz vergessen. Aber als ich die Spinne sah, war es auf einmal wieder da. Da habe ich mich wieder erinnert.“
Sie schaute Anna hilfesuchend an.
„Und ich habe auf einmal große Angst bekommen. Ganz große Angst! Verstehst du?“

Anna zog Angies Kopf vorsichtig an ihre Brust. Wie eine Mutter ihr Kind. Sie fürchtete, dass ihre beste Freundin nahe daran war, den Verstand zu verlieren. Was sollte sie jetzt tun? So hatte Anna Angie noch nie im Arm gehabt. Auf einmal hatte auch sie Angst. Sie merkte, dass die Geschichte mit Matthias größer war. Sie war größer und tiefer, als alles, was sie bisher mit Angie zusammen erlebt hatte. Auf einmal war ihre Freundschaft nicht mehr nur lustig. Mit einem Male bedrohte sie etwas, was sie beide nicht kannten. Es war schrecklich und unheimlich und .. es war wirklich!

Wenn Matthias nicht von Angie erfunden worden war… dachte Anna, … wenn das Treffen mit Thomas bei der alten Mamsell nicht nur ein Traum war, sondern pure Realität, dann sind wir beide auf dem besten Weg, die Grenzen der Wirklichkeit zu überschreiten. Mein Gott, dachte Anna bestürzt und hilfesuchend zugleich. Weiter denken konnte sie nicht. Und mit Angie sprechen konnte sie im Moment auch nicht. Sie strich mechanisch mit der Hand über Angies Haar, in der Hoffnung sie zu beruhigen. Sie wollte Angie nicht noch mehr Angst machen. Aber jetzt hatte auch sie Angst.

Die Tür ging auf. Annas Mutter platzte rein. Ein seltsames Bild bot sich ihr. Die beiden Mädchen kauerten auf dem Sofa zusammen und hielten sich fest als ob der leibhaftige Satan sie erschreckt hätte. Für einen Moment stockte Frau Wagner der Atem.

„Was ist denn mit euch los?“ Ihre Stimme klang besorgt. „Wollt ihr nicht zum Kaffee kommen? Wo kommst du denn her, Angie? Ich habe dich gar nicht kommen hören.“
Sie kam herüber zu den beiden Mädchen und begrüßte Angie.
„Das ist nett, dass du da bist. Wir haben Torte genug. Ich habe wieder mal viel zu viel gebacken! Kommt ihr mit.“
Annas Mutter war nicht mehr besorgt und viel zu fröhlich, als dass sie sich über die beiden Mädchen hätte lange wundern oder sorgen können.

„Habt ihr vorhin diese Geräusche gemacht? Ich habe so eine Art Poltern gehört und dich gerufen Anna.“ Sie sah ihre Tochter neugierig an. „Hast du mich nicht gehört?“
„Nein Mama.“
Dann schaute Anna Angie geheimnisvoll an. Der plötzliche Auftritt ihrer Mutter hatte dafür gesorgt, dass sie ruckartig aus ihrer Angst gerissen wurde. Die Angst wich wieder aus ihrem Kopf, so wie die Sonne Regenwolken vergessen macht.
„Wir haben vorhin nur eine Spinne gejagt.“
Jetzt bekam auch Angie langsam wieder Farbe ins Gesicht. Auch sie lächelte wieder. Geheimnisvoll schaute sie Anna an.
„Ja, das musste vorhin ganz schnell gehen. Vielleicht habe ich etwas umgestoßen.“
Dann streckte sie ihre Hand aus:
„ Übrigens: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Frau Wagner!“
Sie trat entschlossen auf Annas Mutter zu und schüttelte ihre Hand. Frau Wagner ließ Angie nicht mehr los und schnappte auch noch nach Annas Hand. Lachend zogen sie beide Kinder mit sich ins Wohnzimmer.

Der Besuch war mittlerweile verschwunden. Nur noch Herr Wagner saß am Tisch.
„Da seid ihr ja endlich! Ich habe dich vorhin schon vorbei schleichen sehen, Angie. Du solltest Indianer werden. Oder Einbrecher! Setzt euch und greift kräftig zu. Die besten Stücke sind schon weg!“
Er lachte und auch Frau Wagner lachte mit.

Angie sah hinüber zu Anna. Sie zwinkerte ihr unbemerkt zu. Angie zwinkerte zurück. Die unheimliche Kälte war verschwunden. Es war schön Anna als Freundin zu haben, dachte sie und stopfte sich den Mund voll mit Schwarzwälder Kirsch.