Gottes kleine Faust – Kapitel 12: Dialog bei Nacht

„Du kannst noch ein bisschen Musik hören oder Lesen. Aber mach bitte nicht mehr so lange!“
„Ist gut Ma . Schlaf gut!“
„Gute Nacht mein Liebes. Träume was Schönes!“
„Du Mama!“
„Was ist denn noch, Liebes?“
„Bleibt Papa heute hier?“
„Ja. Ich glaube er hat ein paar Glas Wein zuviel getrunken. Ich mache ihm ein Bett im Wohnzimmer zurecht.“
„Das ist gut Ma. Gute Nacht“
„Gute Nacht!“

Frau Faust küsste ihre Tochter und ging Richtung Badezimmer. Es war spät geworden. Auch sie wollte ins Bett. Sie spürte den langen Tag in der Werkstatt in den Knochen. Sie gähnte. Gut das morgen erst Sonntag war. Da konnte sie ausschlafen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass der Sonntag schon in wenigen Minuten begann. Sie fühlte sich sofort noch müder.

Gar nicht müde fühlte sich Angie. Sie lag in ihrem Bett und war putzmunter. Richtig aufgekratzt war sie. Nach dem aufregenden Tag hatte sie der Spiele-Abend wieder in normale Bahnen gebracht. Sie hatten zusammen zu Abend gegessen und dann war der Fernseher ausgeblieben. Jeder hatte sich ein Spiel wünschen dürfen, die alle nacheinander gespielt wurden. Der Sieger durfte sich etwas vom Verlierer wünschen. Angie hatte sich gewünscht, dass ihr Papa ihr das Frühstück ans Bett bringen sollte. Von Mama wünschte sie sich als Spieleinsatz Raster-Zöpfchen. Mama konnte prima Raster-Zöpfchen flechten.
Wie früher so oft, hatte Papa verloren. Und er musste versprechen, das Frühstück am nächsten Morgen ans Bett zu bringen. „Ich verzichte!“ hatte Mama noch kühl gesagt und Papa hatte den Kopf zu Angie und die Augen verdreht.

Ein schöner Abend, dachte Angie. Sie hatte ihre Eltern sehr lieb. Beide! Den heutigen Abend hatte sie richtig genossen. Sie haben sich gar nicht gestritten, freute sie sich.

Nun lag sie im Bett und überlegte, ob sie noch etwas lesen sollte. Ihr Blick lag auf dem Bücherschrank. Sie sprang auf und suchte das oberste Regal ab. Dann das zweite, wo sie schließlich fündig wurde. Tatsächlich. Da stand ihre Bibel. Heike, ihre Patentante, hatte sie ihr einmal geschenkt. Angie nahm das Buch und legte sich wieder ins Bett. Sie blätterte die ersten Seiten auf und fand die Widmung, die Heike zu ihrem 10. Geburtstag hinein geschrieben hatte. Angie hatte dieses Buch schon lange nicht mehr in der Hand gehabt und auch die Widmung hatte sie schon lange nicht mehr gelesen.

Sie lächelte, als sie an den 10. Geburtstag zurückdachte. Es hatte geregnet und Heike hatte wegen Zahnschmerzen zum Notarzt gemusst… Angie blätterte weiter. Bis zum Inhaltsverzeichnis.

Die meisten Namen und Titel sagten ihr gar nichts. Als sie die Bücher des Neuen Testament auf einen Blick sah, fielen ihr sofort die vier Evangelisten in den Blick. Unter der Überschrift „Geschichtliche Bücher“ standen dort „Die Gute Nachricht nach Matthäus“, „Die Gute Nachricht nach Markus“, „Die Gute Nachricht nach Lukas“ und „Die Gute Nachricht nach Johannes“.
Komisch, dachte Angie. „Gute Nachricht“. Immer wieder „Gute Nachricht“. Sie schaute auf und sah Richtung Spiegel, in dem sie sich vom Bett aus spiegeln konnte. Ein ratloses Mädchengesicht sah sie an.

So wie so oft, wenn sie in ihrem Zimmer nachdachte, begann sie mit ihrem Spiegelbild zu sprechen:. „Warum heißt es immer „Die Gute Nachricht“?

Auf einmal fing ihr Spiegelbild zu lachen an!
Das Mädchen im Spiegel lachte sie tatsächlich an.-

Das merkwürdige war nur, dass Angie nicht lachte!

Ganz im Gegenteil. Sie war ratlos und schaute nachdenklich und fragend in den Spiegel!

Angie rieb sich die Augen. Ihr Spiegelbild aber machte das nicht mit! Die Angie im Spiegel hatte sich im Bett aufgesetzt und strahlte sie fröhlich grinsend an.

„Weißt du das wirklich nicht?“ fragte sie Angie.

Angie schob die Decke zur Seite und stand ganz langsam auf. Dabei schaute sie unentwegt auf ihr Spiegelbild. Doch Angie im Spiegel dachte gar nicht daran, es ihr gleich zu tun. Ihr Spiegelbild blieb auf dem Bett sitzen und schlenkerte fröhlich mit den Beinen. Angie ging bis ganz dicht an den Spiegel heran. Das Spiegelbild beobachtete sie dabei unverändert vom Bett aus. Angie versuchte hinter den Spiegel zu gucken, aber da war nur die Wand. Was geschah hier?

„Weißt du das wirklich nicht?“ fragte das Spiegelbild noch mal. Es klang wie Angies Stimme. Nicht lauter, nicht leiser; es war ihre Stimme. Es war sie selbst, die mit ihr sprach.

Angie schaute ungläubig vom Spiegel zum Bett und wieder zurück. Sie konnte ihr lachendes Spiegelbild wirklich nur durch den Spiegel sehen. Wenn sie das Bett direkt anschaute, war es leer. Vollkommen leer.

Ob Matthias wieder damit zu tun hatte?
Immerhin waren keine Spinnen zu sehen und wirkliche Angst stellte sich nicht ein.
Nur Fragen.

„Wer bist du?“ fragte Angie das Mädchen auf dem Bett.
„Ich bin du“, antwortete das Mädchen im Spiegel.
„Und was machst du hier?“
„Dumme Frage“, lachte das Mädchen. „Ich bin doch immer da, wenn du in den Spiegel schaust.“
„Aber du sprichst!“
„Du sprichst doch auch.“

Angie spürte, dass sie so nicht weiter kam. Sie beschloss anders vorzugehen.

„Hat das mit Matthias zu tun? Hat er den Spiegel verhext?“
„Ach Angie!“ sagte das Mädchen und es klang vorwurfsvoll. „Doch nicht verhext. Was ist das für ein Wort. Hexen gibt es nur im Märchen und in unseren Träumen.“
„Dann träume ich das ganz bestimmt nur“ flüsterte Angie kaum hörbar.
„Dann zwick dich doch!“ sagte Angie im Spiegel. „Vielleicht wachst du dann auf.“

Angie dachte nach. Das war bestimmt ein Traum. Immerhin lag sie eben noch im Bett und dabei musste sie eingeschlafen sein und diesen verrückten Traum träumen. Ja, so wird es sein, dachte sie. Und dann dachte sie weiter: Wenn ich mich jetzt zwicke, wache ich auf. Aber wenn ich mich nicht zwicke, kann ich vielleicht mehr erfahren…. Ich werde mich also nicht zwicken, beschloss sie.

„Los zwick dich schon! Du wirst nicht aufwachen „, forderte sie jetzt Angie im Spiegel erneut auf. „Vergiss nicht: es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als du dir vorstellen kannst. Hast du bei Frau Quentin nicht aufgepasst? Zwick dich und dann setz dich zu mir ans Bett. Dir wird ja schon ganz kalt.“

Angie fröstelte tatsächlich. Sie rieb sich mit beiden Händen die Arme … und dann zwickte sie sich. Sie zwickte sich lang und kräftig in die Backe. Tränen schossen ihr in die Augen, so sehr schmerzte es. Als sie die Tränen weggewischt hatte, saß ihr Spiegelbild immer noch da.
„Pass auf, dass du dir nicht wirklich weh tust “, sagte es zu ihr. „Und nun komm schon. Du kannst mit mir über alles reden. Das tust du doch sonst auch immer.“
„Aber du antwortest mir sonst nicht.“
„Tu ich das wirklich nicht? Wieso redest du dann mit mir“

Die Backe schmerzte immer noch. Das Blut pulsierte kräftig. Angie musste sehr tapfer sein, um nicht vor Schmerzen zu weinen. Angst hatte sie aber keine. Sie setzte sich aufs leere Bett. Im Spiegel sah sie sich selbst neben sich sitzen. So als ob sie neben einer Zwillingsschwester saß. Das Mädchen im Spiegel streichelte vorsichtig über die schmerzende Backe und sofort hörte der Schmerz auf. Angie fühlte sich augenblicklich besser. Jetzt lächelte sie beinahe wieder. Ist ja echt krass, dachte sie und konnte nicht aufhören, sich zu wundern.

Das Spiegelbild übernahm wieder das Wort: „Du hast mir vorhin eine Frage gestellt. Ich will sie dir gerne beantworten.- … Wenn du noch möchtest?“

Angie hatte schon fast vergessen, wie alles angefangen hatte. Aber die Bibel lag immer noch aufgeschlagen im Bett.

„Doch.“ antwortete sie schnell. „Klar will ich mit dir reden. Du musst mir so vieles erklären.“

Ihr Spiegelbild schlug die Beine übereinander.
„Dann los. Deine Mutter kommt gleich noch mal zu uns rein und dann solltest du eingeschlafen sein.“
Angie zog die Augenbrauen hoch.
„Du sagst dann Bescheid, okay?“
„Na klar.“

Sie warteten kurz und lauschten. Noch war nichts aus dem Badezimmer oder dem Schlafzimmer zu hören. Sie konnten also weiter reden.

„Also warum heißt es immer die „Gute Nachricht“? Was ist denn die „Gute Nachricht“ der vier Evangelisten? Kannst du mir das erklären?“
„Gerne! Also pass auf: Du hast doch bestimmt schon von Jesus gehört?“
„Logisch. So dumm bin ich auch wieder nicht. Auch wenn Frau Quentin nicht so oft über Jesus redet. Aber er interessiert mich wirklich. Vor allem jetzt, seitdem mir Matthias gesagt hat…“

Angie zögerte. Irgendwie schien es Angie albern, ihrem Spiegelbild zu erklären, dass Matthias ihr gesagt hatte, sie sei ein Engel.

„Er hat dir gesagt, dass du ein Engel bist. Ich weiß schon. Ich war ja dabei. Du bist ein Engel. Da hat Matthias schon Recht. Und das hat mit der „Guten Nachricht“ von Jesus zu tun.“
„Siehst du und das verstehe ich auch nicht.“
„Das ist gar nicht so schwer zu begreifen, wenn man keine schweren Worte benutzt. Ich will versuchen, mich daran zu halten. Also du weißt, dass Jesus der Sohn von Josef und Maria ist. Jetzt wird es etwas schwieriger: Denn da es der Wille Gottes war, dass einer, der die Welt von allem Bösen retten kann in die Welt kommen soll, kann man auch Gott selbst als den Vater von Jesus bezeichnen. Verstehst du? Weil es Gottes Wille war, wurde Maria Mutter und bekam ihren Sohn Jesus.“

Angie zögerte. Hatte sie das verstanden? Sie wusste nicht so recht. Um Zeit zu gewinnen fragte sie:
„Du meinst die Geschichte von Bethlehem?“

„Ja ich meine die Weihnachtsgeschichte. Wenn du willst, kannst du sie später irgendwann noch einmal nachlesen. Du findest sie zu Beginn des Lukasevangeliums.“
Angie beschloss im Stillen, es später wirklich zu tun. Jetzt aber fragte sie weiter.

„Ist das schon die „Gute Nachricht“, dass Jesus als Wille Gottes geboren wird?“

„Das ist nur die halbe „Gute Nachricht“. Aber in ihr ist schon die ganze „Gute Nachricht“ enthalten. Denn wenn Gott will, dass das Böse aufhört, dann reicht sein Wille und es hört auf. Gottes Wille geschieht immer. Weißt du. Auch wenn es Menschen nur schwer begreifen können. Darauf ist Verlass. Das musst du dir merken. Hörst du? Jedenfalls wird Jesus geboren, damit er als Sohn Gottes die Welt von dem Bösen erlöst.“

Sie machte eine kleine Pause, so als ab sie wartete, dass Angie hinterher kam. Dann erklärte sie weiter:

„Weißt du, die Menschen haben schon lange Zeit vor Jesus versucht, das Böse sein zu lassen und nur das Gute zu tun, von dem sie meinten, dass es Gott gefallen würde. Aber es hat nie so richtig geklappt. Jedenfalls nie lange. Eigentlich ist genau das Gegenteil passiert. Im Laufe der Zeit ist alles immer schlimmer geworden. Und deswegen hat Gott Jesus geschickt. Er hat gezeigt, wie es doch gehen kann. Er hat den Menschen gezeigt und vorgelebt, wie man wirklich gut leben kann und leben soll und wie die Menschen das Böse fernhalten können. Diese „Nachrichten“ haben die Evangelisten festgehalten.“

„Und das ist die „Gute Nachricht ?“
„Das ist sie. Aber sie ist es immer noch nicht ganz.“
„Was denn noch ?“
„Ein letzter großer Punkt fehlt noch. Der wichtigste. Ich erkläre es dir:
Damit Jesus den Willen Gottes voll erfüllte, musste er ein großes Opfer bringen. Dieses letzte Opfer sollte das Böse endgültig und für alle Zeit besiegen.“
„Was sollte das sein ?“
„Sieh hinüber an die Wand. Dann weißt du es.“

Angie sah hinüber.
„Du meinst das Kreuz?“

„Ja. Jesus ist am Kreuz gestorben und hat den Tod besiegt. Das ist die „Gute Nachricht“!
Weil Jesus am Kreuz gestorben ist und wieder zum Leben auferstand werden auch die Menschen nach ihrem Tod zum Leben zurück kehren. Genau wie Jesus. Wer so lebt, wie Jesus es vorgemacht hat, der wird am Leben bleiben. Den kann der Tod nicht wirklich aufhalten.“

Angie dachte laut nach: „Genau wie Jesus leben, sagst du…Und wo wird das sein?“
„Jesus sprach selbst immer vom „Reich Gottes“. Du kennst es besser unter dem Namen „Himmel“. Ich nenne es lieber in der „Nähe Gottes“. Aber das sind Wortspaltereien.“

Angie konnte gar nicht mehr aufhören zu denken und zu fragen. Alles schwirrte ihr wild durch den Kopf. Wie sollte sie da je Ordnung reinbringen?

„Woher…woher weißt du das?“ fragte Angie staunend und bewundernd zugleich.
„Na von Matthias“ lachte ihr Spiegelbild. „Aber nun Vorsicht! Deine Mutter kommt! Matthias wird dir bald alles noch mal gründlicher erklären. Dafür ist er doch zu dir gekommen. Fürs Erste reicht es wohl. Dass sehe ich dir an! – Schnell mach das Licht aus! Sonst kriegen wir Ärger.“

Doch Angie konnte sich nicht rühren. Das war alles viel zu viel für sie. Was sollte sie tun? Mama die Wahrheit sagen und ihr alles erklären? Wie sollte sie das schaffen? Sie hatte ja selbst noch nicht wirklich begriffen. Aber da ging schon die Tür auf und ihre Mama kam im Nachthemd hinein.

Sie sah Angie tief und fest schlummern und musste leise lächeln. So sehr lieb hatte sie ihre Tochter. Und wenn sie schlief ganz besonders. Angie träumte wohl, denn sie zuckte und murmelte im Schlaf. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Die Mutter nahm ein Taschentuch und wischte sie vorsichtig weg. Dabei sah sie die Bibel, die Angie neben sich liegen hatte. Das ist ja eine besonders ungewöhnliche Bettlektüre, dachte sie und legte das Buch hinüber zum Religionsheft auf den Schreibtisch. Dann streichelte sie nochmals ihrer Tochter über das Gesicht und strich ihr die Haare zurück.

Da entdeckte sie auf einmal auf Angies Wange einen heftig roten Fleck. Wie von einer Quetschung. Wo kam der denn her? Danach muss ich morgen gleich fragen, nahm sie sich vor und knipste das Licht aus.