Gottes kleine Faust – Kapitel 13: Der Morgen danach

„Guten Morgen, Kleines. Das Frühstück ist fertig.“
Angies Vater saß am Bett seiner Tochter und streichelte ihr sanft den Arm. Angie brauchte lange, bis sie begriff. Sie lag noch tief in einem traumlosen Schlaf. Die Worte ihres Vaters und die warme Hand auf ihrer Haut holten sie behutsam aus den Tiefen des Unbewussten zurück in die Wirklichkeit.
„Ach du,“ murmelte sie nur leise.
Herr Mertens ahnte, dass seine Tochter gleich wieder einschlafen würde. Auch wenn er Angie nicht mehr so oft weckte wie früher, wusste er Bescheid. Er schaltete auf Programm „Nummer 2“ seines Weckprogramms und ging zum Fenster. Dort zog er den Vorhang auf. Und während er den Vorhang aufzog, sagte er den Satz, von dem er nicht geglaubt hätte, dass er die Wirkung haben werde.

Er sagte nur:
„Ich habe eine gute Nachricht für dich…“, da fuhr Angie mit ICE Geschwindigkeit aus dem Schlaf. Mit einem Male war sie nicht nur hellwach, sie erinnerte sich auch plötzlich an jedes Detail vor dem Einschlafen!
„… die Sonne scheint aus sieben Himmeln“ beendete Angies Papa seinen Satz und drehte sich wieder Richtung Bett. Er glaubte seinen Augen kaum: Angie stand senkrecht im Bett !- War Weckprogramm „Nummer 2“ so gut?

Gelbes Sonnenlicht strömte in das Kinderzimmer und flutete den Raum. In ihrem weißen Nachthemd schaute sie im Sonnenglanz fast wie ein Engel aus. Nur ohne Flügel, dachte Herr Mertens. Aber sahen Engel nicht strahlend aus und nicht so verschreckt?
„Was ist denn mit dir los, Angie? Erst wirst du gar nicht wach und jetzt siehst du aus, als ob du gleich loslaufen willst. Wohin denn ?“

Angie brauchte nur ein, zwei Sekunden, dann fing sie sich wieder. Ein Blick in den Spiegel versicherte ihr, dass ihr Spiegelbild wieder den Gesetzen der Normalität folgte. Sie ließ sich in ihr Bett plumpsen.
„Ach nichts, Paps!“ beruhigte sie ihn. „Ich habe nur gerade etwas geträumt und…“
„Schau mal was ich dir mitgebracht habe“, unterbrach sie auch schon ihr Papa, ohne weiter auf Angies Worte zu achten. „Frische Brötchen, Croissants, Erdbeermarmelade, ein fünfeinhalb Minuten Ei, Käse, Butter, Orangensaft und heißen Kakao. Stimmt das alles so, oder hast du noch einen Wunsch?“
Dabei machte Herr Mertens eine kleine Verbeugung, als wäre er Hausdiener.
„Nein Papa“, grinste Angie. „Das hast du prima gemacht.“
Sie biss genießerisch in ein noch warmes Brötchen.
„Hoffentlich verlierst du das nächste Mal wieder!“
„Von wegen. Merk dir nur alles, wie ich es mache,“ Papa beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss, „ich will alles auch einmal genau so haben!“
Er machte eine kleine Pause, „wenn ich es noch mal erlebe…“
„Nie!“ sagte Angie selbstbewusst. „Nicht wenn wir Spiele spielen, wo du nicht mogeln kannst.“ Herr Mertens blickte für einen Moment enttäuscht auf seine Tochter. Dann boxte er ihr scherzhaft auf den Arm, so dass beinahe die Tasse Kakao vom Tablett gerutscht wäre.
„Wir sollten das nächste Mal boxen!“ schlug er vor. „Das kann ich besser!“

 

 

Er setzte sich zu Angie ans Bett.
“Willst du nicht doch lieber mit mir in der Küche frühstücken? Ich mach mir auch den Kaffee selbst!“
Angie überlegte kurz. „Ach nein“, antwortete sie, „ich höre hier ein bisschen Musik und krümele dabei vor mich hin. Ist das okay?“
„Das ist schon in Ordnung, Kleines. Dann bis später, Küsschen.“
Angie nickte und sandte ihm einen Kuss durch die Luft. Dann war sie allein.

Sie sprang aus dem Bett und lief zu ihrer Anlage. Sie wählte etwas Lautes aus und legte es in den CD-Player. Als sie fertig war, schaute sie vorsichtig über ihre Schulter. Sie wollte sicher gehen, dass Papa nicht wieder zurückkam. Dann stand sie auf und betrachtete sich aufmerksam im Spiegel.

Sie drehte den Kopf.
Das Spiegelbild drehte sich mit.
Sie hob den Arm.
Nichts besonderes passierte, auch der Arm im Spiegel ging nach oben
Dann hob sie den anderen Arm.
Dann das Bein. Und dann das andere Bein.
Wieder nichts. Alles blieb normal.
Sie startete die Bewegungen von vorn.
Zuerst den Kopf …

„Sag mal was machst du denn da für einen Tanz?“

Mama! Angie spürte eine Art „Schlag“. Unsichtbar, aber höchst effektvoll. Frau Faust stand mit einem Male in der Tür und wunderte sich über die seltsamen Bewegungen ihrer Tochter. Wie soll ich jetzt das schon wieder erklären, fragte sich Angie panisch. Doch Mama nahm ihr die Erklärung ab. Sie hielt den kurzen „Test“ am Spiegel tatsächlich für einen Tanz!

„Also ich kann mit der Musik nichts anfangen. Wie soll man da denn zu zweit tanzen?“
Sie ging zum Fenster und lehnte sich an die Fensterbank.
„ Stell das bitte leiser und komm mal zu mir rüber.“ Sie zog Angie sanft vom Spiegel weg und führte sie zum Fenster, wo Angie besser im Licht stand.
„ Ich muss dich mal untersuchen. Gestern Abend habe ich da etwas entdeckt. Übrigens : guten Morgen erst mal!“
Auch sie küsste jetzt ihre Tochter, die immer noch viel zu überrascht war, um irgendetwas zu antworten. Sie ließ einfach alles mit sich geschehen.

„Ich habe gestern, als ich noch mal nach dir gesehen habe, einen roten Fleck an der Backe gesehen.“ Sie schaute auf die Stelle vom Abend zuvor. „Wo kommt der denn her?“ Sie konnte noch immer eine kleine Rötung erkennen, aber es war nicht mehr von der Stärke, die eine Mutter beunruhigen musste.
„Ich weiß nicht mehr so richtig“, versuchte sich Angie zu erinnern. Sie schaute wie ein Unschuldslamm. „Vielleicht lag ich ja auf einer Falte, oder auf so einem dämlichen Knopf vom Kopfkissen.“
„Hm“ meinte die Mutter. „Also wenn du mich fragst, kommt das von keinem Knopf oder so.“ Sie untersuchte weiter ausgiebig und schüttelte den Kopf. Dann hatte sie eine Idee.
„Vielleicht hast du ja eine Mücke im Zimmer gehabt und die hat dich gestochen? Du reagierst bestimmt allergisch!“
„Ja, vielleicht!“ verstärkte Angie die Idee der Mutter.
„Naja, wir müssen das beobachten“, beschloss Frau Faust. „Jetzt ist es jedenfalls beinahe weg.“
Sie schaute noch mal kurz auf die andere Backe, dann war sie auch schon wieder in der Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um:
„Wenn du die Musik nicht mitbringst, kannst du auch zu mir ins Bett huschen und dort mit mir frühstücken! Papa soll uns schön bedienen, das gönne ich ihm“, sie lachte schadenfroh, „Wo steckt der Kerl überhaupt?“
„Der sitzt in der Küche und wartet bestimmt darauf, dass er dich bedienen darf.“
Frau Mertens schaute Angie missbilligend an. „Was ist nun? Kommst du mit?“
„Nee lass mal! Ich mach es mir hier so richtig gemütlich. Die Musik ist klasse!“, sie begann wieder mit ihren „Tanzbewegungen“, „Musik zum Sonntagmorgen-Frühstück ist für mich so wichtig, wie für dich der Kaffee im Bett!“
Mama lachte und verschwand.

Das war knapp, stellte Angie fest. Aber sie musste unbedingt hinter das Geheimnis der letzten Nacht kommen. Das ging nur allein!

Sie grinste noch einmal vorsichtig in den Spiegel, der ihr Lächeln zurückwarf. Hunger hatte sie eigentlich nicht. Sie tauchte ein Croissant in den Kakao und schlürfte die Milch heraus. Konzentriert bei der Sache war sie aber nicht. Sie tropfte tüchtig ins Bett. Doch sie bemerkte es nicht einmal. Die vielen Gedanken in ihrem Kopf blockierten alles Nebensächliche.

Hatte sie mit Angie im Spiegel gesprochen, oder war das nur ein Traum?
Sie konnte sich noch daran erinnern, dass sie gewarnt worden war. Sie hatte gefürchtet, dass sie Ärger mit Mama bekommen würde und dann….. Sie überlegte. Da war ein leeres Feld… da war absolut keine Erinnerung mehr. Das nächste, das sie wusste, war, dass Papa sie am Arm gestreichelt hatte und schließlich von der „Guten Nachricht“ gesprochen hatte.- Das war alles sehr seltsam.

Schließlich erinnerte sie sich an das, was Angie im Spiegel über Jesus gesagt hatte. Seine Auferstehung sei die „Gute Nachricht“, von der die Evangelisten sprachen. Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu seien alle Menschen mit Gott versöhnt, hatte Angie im Spiegel erklärt. Und alle Menschen würden nun auch nach dem Tod in die Nähe Gottes kommen, dem Himmel. Der Tod sei nicht wirklich das Ende.- Wenn sie ehrlich war, hatte sie das noch nicht verstanden. Über den Tod hatte sie sich bislang noch keine Gedanken gemacht und auch noch nicht wirklich über das Leben.

Für sie waren „gute Nachrichten“ etwas ganz anderes. Sie überlegte: eine eins in Mathe, eine Bestzeit beim Schwimmen… und natürlich auch, dass netter Besuch kommt. Aber davon sprach die Bibel überhaupt nicht, dachte sie.

Da kam ihr eine Idee. Sie schob das Tablett wieder zurück und holte sich das Tagebuch. Wenn Matthias schon einmal darin geschrieben hatte, dann hatte er vielleicht auch jetzt eine Nachricht für sie. Sie schloss es auf und blätterte. Noch zwei Seiten, noch eine… Angie lächelte: Da war eine Nachricht!

 

Hallo Angie, guten Morgen!

Kommst du mit zum Bootfahren?
Zu zweit rudert es sich leichter!

Matthias

Ich komme, dachte Angie sofort und freute sich. Ohne lange abzuwarten, holte sie ihre Sachen aus dem Schrank und zog sich an. Ihre Lieblings-Jeans ließ sie hängen. Sie entschied sich lieber für die Cordhose und den schwarzen Pulli. Dann hatte sie noch eine Idee. Sie kramte nach dem kleinen Rucksack und packte alle Brötchen und auch die restlichen Croissants hinein. Die wollte sie mitnehmen. Als sie noch schnell das Tagebuch abschließen und zurücklegen wollte, stand schon die nächste Botschaft unter der alten:

Prima. Ich freue mich!

Angie strahlte über das ganze Gesicht. Ist ja besser als SMS, dachte sie glücklich. Sie verschloss das Buch und legte es in das Versteck. Dann ging sie los, um ihren Eltern bescheid zu sagen. Sie musste sich wieder etwas einfallen lassen…