Gottes kleine Faust – Kapitel 15: Johannes

Angie war nicht mehr draußen auf dem Wasser. Matthias saß… sie traute ihren Augen kaum: Matthias saß mit dem Adler an einem kleinen Lagerfeuer im Garten der alten Mamsell. Angie selbst lag – eingewickelt in einer Decke – gegenüber, in der Nähe des Feuers. Das kleine Jungtier war nicht mehr zu sehen. Der Adler saß neben Matthias. Beide sprachen miteinander. Angie konnte sie nicht verstehen. Es schien ihr aber, als würden sie sich streiten. Jedenfalls gestikulierten beide heftig, während sie miteinander sprachen. Als sie merkten, dass Angie aufgewacht war und sie beobachtete, hörten sie auf in der fremden Sprache zu reden und wendeten sich ihr zu.

„Alles wieder in Ordnung, Angie? Geht es dir jetzt wieder besser?“
Matthias und der Adler sahen sich besorgt an. Dann erklärte Matthias Angie, was passiert war.
„Du bist in Ohnmacht gefallen, da habe ich dich lieber wieder an Land gebracht. Ich habe dich, wie du siehst, schön warm eingewickelt und Feuer gemacht.“
Er schaute auf das Feuer. Dann zeigte er auf den Adler: „Das ist Johannes.“
Matthias berührte mit einer Hand die Federn den Adlers. „Ich fand, es wäre wichtig, dass Johannes dir selbst erzählt, wie Gott aussieht. Schließlich hat er es am Besten von uns aufgeschrieben. Das finde jedenfalls ich.“
Jetzt warf er einen auffordernden und anerkennenden Blick dem Adler zu, der seine Fittiche sogleich ausbreitete und mit wenigen kurzen Flugbewegungen zu Angie hinüber segelte. Angie erschrak.

„Keine Angst Angie, ich bin nur als Adler hier, weil die Menschen mich immer wieder so darstellen. Ich könnte mich dir auch ganz anders zeigen. Aber das ist nicht so wichtig.“
Er sah zu Matthias. Der nickte ihm nur kurz zu, dann redete der Adler weiter:
„Wichtig ist nicht, wer ich bin oder war, oder was ich bin oder sein werde.“
Er unterbrach und überprüfte, ob Angie ihm Aufmerksamkeit schenkte.
„Wichtig ist das, was ich aufgeschrieben habe, damit die Menschen auf der ganzen Welt die „Gute Nachricht“ lesen können.“

„Nun sag schon, was du über Gott geschrieben hast, Johannes“, forderte ihn Matthias auf. War er ungeduldig?
„Mach ich ja schon, wenn du mir Zeit lässt. Aber ich muss Angie doch erst einmal vorbereiten….“
„Das habe ich schon getan“, unterbrach ihn Matthias beinahe heftig, „ und du weißt, dass ich mich um sie kümmern soll!“
„Ja das weiß ich. Und ich wette, sie wird mitmachen.“

Jetzt sah Johannes wieder seltsam erstaunt Matthias an. Aber aus dem Blick zwischen dem ungleichen Paar wurde Angie nicht schlau. Mutig fing sie nun an zu sprechen:

„Was willst du mir erklären? Was wettet Matthias?“

Der Adler war so sehr davon überrascht, dass er einen Satz nach hinten machte und kräftig mit den Flügeln ruderte, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Für einen Moment hielt er seinen Kopf schräg und schaute Angie scharf an. Dann entspannte er sich wieder und hüpfte näher.

 

„Matthias hat mir nicht zuviel versprochen. Du bist richtig.“ Dabei nickte er, mehr wie ein Mensch und nicht wie ein Raubtier, mit dem Kopf. „Ich freue mich dich kennen zu lernen, Angie.“

Angie nickte zurück und lächelte vorsichtig.
„Ich freue mich auch.“ Dann zögerte sie einen Moment: „Wie begrüßt man einen Adler? Ich kann dir ja schlecht die Hand geben, oder?“
Johannes hielt seinen Kopf wieder schräg, als müsste er ebenfalls überlegen.
„Sag doch einfach Schalom. Das ist die beste Begrüßung, die ich kenne: der Friede sei mit dir.“
„Schalom, Johannes“, sagte jetzt auch Angie. „Sag mal, habe ich vorhin von dir geträumt?“

Matthias schaute überrascht auf. Zum ersten Mal sah Angie ihren Freund erstaunt. Das überraschte sie nicht weniger. Was war das für ein merkwürdiges Spiel zwischen Matthias und Johannes?

Der Adler blickte entschuldigend zu Matthias.
„Du hattest es selbst vorgeschlagen, dass ich kommen sollte! Du wolltest, dass Angie meine Worte liest“ sagte er zu ihm. Und dann, zu Angie gewandt: „Du musst wissen, dass wir Evangelisten im Grunde sehr eigenständig sind. Manchmal gelten wir sogar als eigenwillig…“

„Besonders du, Johannes!“ rief jetzt Matthias herüber. „Wenn man in seinem Evangelium liest, Angie, musst du wissen, könnte man auf die Idee kommen, einiges habe sich ganz anders zugetragen.“

Angie wunderte sich. War in dieser Aussage ein Vorwurf zu hören? Doch den Gedanken verwarf sie ganz schnell wieder, denn Matthias lobte auf einmal den Adler.
„Aber du hast ja Recht Johannes. Vieles hast du einfach klarer und …“ er zögerte eine kleine Weile, als ob es ihm schwer über die Lippen kam, „und vielleicht hast du es auch schöner gesagt, als wir anderen.“

Der Adler machte einen kleinen Sprung in die Luft. Schaute er jetzt zufriedener? Lachte der Adler sogar? Angie rieb sich die Augen. Doch für weitere Beobachtungen blieb keine Zeit. Johannes hatte wieder das Wort. „Dafür nennen euch die Menschen „Synoptiker“. Weil ihr“, er unterbrach und erklärte Angie, die wieder mal kaum verstand, was vor sich ging: „ Ich meine Markus, Lukas und Matthäus, weißt du?“
Sie nickte zögerlich.
Dann wandte sich Johannes wieder Matthias zu: „Weil ihr im Wortlaut so ähnlich seid und ich mich von euch unterscheide. Aber lass mal“, er drehte sich wieder zu Angie, „wir alle haben so unsere Eigenarten, musst du wissen. Manche Menschen fänden es sicher angenehmer, es gäbe nur einen Evangelisten. Aber das wäre ja dann beinahe so, als gäbe es nur einen Nachrichtensender oder nur eine Zeitung. Wie langweilig, findest du nicht auch?“

Der Adler sah sie an und wartete scheinbar auf eine Antwort. Angie aber kam so schnell nicht mit. Für all das brauchte sie mehr Zeit zum Nachdenken. Hilfesuchend sah sie Matthias an.

„Johannes hat sicher Recht“, pflichtete Matthias Johannes bei. „Wenn Nachrichten nur von einer Person bestätigt würden, reicht das nicht aus, alle Blickwinkel und Perspektiven zu erfassen. Da reichen ja kaum vier.“
Dann schaute er vergnügt zu Angie und fragte: „Was meinst du, warum es vier Himmelsrichtungen gibt?“

Noch bevor Angie wirklich darüber nachdenken konnte, rückte Johannes näher an Angie heran:
„Hast du meinen Brief bekommen?“

Himmel! Der Brief, schoss es Angie durch den Kopf. Die Schriftrolle war ihr doch im Traum in die Hände gesegelt. Nicht im Ernst hatte sie daran gedacht, dass die Rolle wirklich bei ihr gelandet war. Sie hatte immer noch die Decke um sich geschlungen. Wo war der Brief? Fühlen konnte sie ihn nicht. Sie riss die Decke von sich und sprang mit einem kräftigen Satz auf. Der Brief war nirgends. Sie überprüfte, ob er in ihrer Hose oder sogar unter dem Pulli steckte… Nein. Er blieb verschwunden.

„Schau doch mal unter der Decke nach“, schlug der Adler vor und zeigte mit der Flügelspitze auf einen gelben Zipfel. Angie fiel auf die Knie und kramte einen Umschlag hervor, in der eine Schriftrolle steckte.

„1. Brief von Johannes“ stand auf dem Umschlag. Sie drehte sich fragend zu dem Adler. „Schau mich nicht so an. Der Brief ist für dich! Wenn er auch ursprünglich für eine bestimmte Gemeinde in Kleinasien verfasst worden ist. Aber alle Briefe im „Neuen Testament“ sind im Grunde für jeden geschrieben, der sich für die „Gute Nachricht“ interessiert.“

Angie brach das Siegel auf.

Gespannt flogen ihre Augen über die Schriftrolle. Der Brief war auf Papyrus geschrieben und wirkte ungeheuer alt. Ob der Brief der echte war? Der, den damals Johannes geschrieben hatte, für jeden, der sich für die „Gute Nachricht“ interessierte?
Angie schaute Johannes an. Der nickte leicht mit seinem Kopf, als ob auch er Gedanken lesen konnte. Angie schaute wieder auf die Schriftrolle, diesmal um die geschriebenen Zeilen zu lesen. Aber was war das? Sollten das Buchstaben sein? Diese Schrift konnte sie nicht lesen.

Irritiert schaute sie die beiden Evangelisten an. Matthias half ihr zu verstehen.
„Du hältst tatsächlich das Original in den Händen. Es ist nicht nur sehr kostbar…“, er kam jetzt zu Angie heran und stellte sich neben sie. „ Es ist in griechisch verfasst. Griechisch war zur Zeit Jesu so wichtig wie heutzutage die englische Sprache. Wer wollte, dass sein Brief von möglichst vielen gelesen werden sollte, verfasste ihn besser in griechischer Sprache.“

Angie schaute erstaunt, aber auch ärgerlich: „Und wie soll ich ihn jetzt lesen können?“
„Das haben wir gleich!“ antwortete Matthias. Und jetzt geschah etwas Ähnliches wie Vorgestern im Fahrradkeller, als sie das erste Mal zusammen sprachen. Matthias formte wieder die rechte Hand so merkwürdig: Er berührte mit dem kleinen Finger den Daumen und bildete mit den anderen drei Fingern erneut eine Art Dach. Dabei hielt er die Hand in Richtung der Schriftrolle. Angie, die mehr auf die Hand als auf die Schriftrolle geachtet hatte, erschrak. Der Brief war plötzlich weg. In der Hand hielt sie stattdessen jetzt etwas ganz anderes: eine silberne Scheibe.

 

 

 

 

Irritiert sah sie Matthias an.
„Was machst du?“
„Ich habe dir den Brief auf CD „gebrannt“,“ lachte er, „oder zumindest so etwas ähnliches gemacht.“
Er schaute Angie an und versuchte, ernst zu bleiben.
„Du wirst jetzt sicher gleich zu Anna gehen, um Schulaufgaben zu machen. Habe ich Recht?“ Angie nickte.
„Dann könnt ihr dort die CD sofort gemeinsam auf dem Computer lesen“, erklärte Matthias Angie als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Die aber starrte ihn nicht weniger verwundert an.
„Wir können dir leider nicht die Schriftrolle überlassen“, versuchte Matthias weiter zu erklären, während er scheinbar irgendetwas suchte. „Aber wenn du mit dem Original irgendwo auftauchst, würde das sicher einen ganz schönen Aufruhr geben.“
Jetzt hatte er eine kleine Schaufel, die am Schuppen lehnte, entdeckt. Er ging langsam auf sie zu, redete aber beschäftigt weiter
„Weißt du, es existieren nur sehr gute Abschriften von dem ersten Brief. Das Original ist verschollen. In den Klöstern, Kirchen und Museen der Welt gibt es überhaupt keine Originale mehr von der Heiligen Schrift. Überall lagern nur noch sehr alte Abschriften. Wir sollten also nicht zu viel Staub aufwirbeln, findest du nicht auch?“

Angie schaute mit großen Augen Matthias an. Dann Johannes. Sagen konnte sie nichts. Sie blieb einfach stumm.

Jetzt meldete sich wieder Johannes zu Wort.
„Ja dass ist besser so. Wir wollen doch keinen Ärger machen, oder?“
Es brauchte wieder eine kurze Zeit, dann schüttelte Angie den Kopf.
„Nein, natürlich nicht, aber…“

„Wenn du willst, kannst du mir ja einen Brief zurück schreiben, Angie!“ sagte auf einmal Johannes und Angie bemerkte, dass Matthias wieder ganz erstaunt die Augen weit öffnete. Diesmal legte Matthias seinen Kopf nachdenklich zu Seite, während er den Adler scharf ansah.
„Das hat bisher noch keiner getan, was Matthäus?“

Dann spreizte der Adler seine Flügel, um sich in die Luft zu heben. Vorher aber verabschiedete er sich noch von Angie:
„Machs gut, mein Engel! Also abgemacht! Du schreibst mir, ja?“ Und schon segelte Johannes davon, hinaus über den See in die Nachmittagssonne hinein.

Jetzt waren sie wieder allein. Matthias machte mit Hilfe der Schaufel das Feuer aus, während sie immer noch stumm die CD in ihrer Hand betrachtete. Langsam kehrte ihre Aktivität wieder zurück.
Angie steckte die CD in ihren Rucksack und half Matthias mit den Füßen, beim Feuer ausmachen. Während sie feuchte Erde aufschaufelten, grinsten sie sich mehr und mehr an, bis sie beide plötzlich loslachen mussten. Erst leise, dann aber immer lauter.

 

„Kommst du mit zu Anna?“ fragte Angie auf einmal und wünschte sich nichts mehr als genau das.
„Nein, leider nicht“ antwortete Matthias. „ Auch ich muss noch die Hausaufgaben erledigen!“ Seine Stirn zog sich in Falten. „ Und weißt du was?“ seine Stimme wurde leise und geheimnisvoll. Er beugte sich zu Angie und flüsterte in ihr Ohr: „ Ich möchte probieren, ob ich die Schulaufgaben ganz ohne jede Hilfe alleine schaffe!“

Angie wusste für einen Moment nicht, ob Matthias ihr etwas vorspielte oder nicht. Dann aber platzten beide beinahe wieder vor Lachen.
„Na dann viel Spaß! Besonders mit Mathe!“ gluckste Angie nach Luft schnappend und gemeinsam gingen sie fröhlich zum Schuppen und holten ihre Fahrräder.