Gottes kleine Faust – Kapitel 16: Der Brief

„Du musst mir Matthias unbedingt bald vorstellen!“ bat Anna Angie.

„Ich habe ihm gesagt, dass er mitkommen soll. Ehrlich! Aber Matthias hat geantwortet, dass er noch Hausaufgaben machen muss.“

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht, oder?“

„Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Jedenfalls ist er ein Engel. Das weiß ich jetzt ganz sicher.“

Anna sah Angie an. Sie wusste, dass ihre Freundin die Wahrheit sagte. Dennoch konnte sie kaum glauben, was sie hörte.

„Das  ist alles so aufregend und unglaublich, Angie! Wenn ich überlege, dass meine Nonnen in der Schule soviel von Gott und Jesus und vom Himmel und dem Guten und dem Bösen und überhaupt erzählen…“, sie schien all das, was sie darüber gehört hatte, nochmals kurz zu durchdenken, „ ..dann habe  ich nie das Gefühl, dass sie wirklich wissen, wovon sie reden!- Und jetzt kommst du und erzählst, dass du einen Engel zum Freund hast…  Und weißt du was?“ Sie sah ihre Freundin von der Seite an: „Ich glaube dir alles, was du mir erzählst!“ 

Sie nickte Angie zu. Dann kam ihr eine Idee:

„Das wäre ein Ding, wenn du Matthias einmal mit in meine Schule bringen würdest!“

Angie dachte einen Moment nach. 

„Ich weiß nicht….“, sagte sie zögerlich. Sie hielt das für keine gute Idee.

„Warum braucht dein Computer solange, bis er hochgefahren ist? Das dauert ja eine Ewigkeit“, wechselte Angie nun das Thema. Beide wendeten sich wieder dem Computer zu.

„Nur Geduld. Los gib mir schon mal die CD rüber.“

„Da, bitte schön.“

Sie schauten gespannt auf den Bildschirm. Anna fuhr mit der „Maus“ über das Mouse-Pad, aber der Computer reagierte nicht wie gewohnt. Er machte überhaupt nicht das, was Anna wollte. Doch die „Maus“  und die Führung durch Anna war auch gar nicht nötig: kaum war die CD in der Klappe des Computers verschwunden, lief alles ganz „automatisch“. Als ob ein Film eingelegt worden war, der sich selbst abspielte.

„DER ERSTE BRIEF VON JOHANNES FÜR ANGELIKA“ stand auf einmal in großen Buchstaben auf dem Bildschirm. Anna sah Angie an und packte unbewusst nach ihrer Hand. Während Angie völlig ruhig blieb, hatte Anna ein ganz aufgeregtes und unheimliches Gefühl. Der Magen meldete sich. Anna legte die andere Hand auf ihren Bauch. Das flaue Gefühl aber blieb. 

Plötzlich wurde der Bildschirm ganz dunkel. Pechschwarz. Anna dachte schon der Computer sei kaputt, aber Angie sah immer noch gebannt auf die schwarze Fläche. Als auch Anna wieder hinsah, bemerkte sie einen hellen, weißen Punkt, der langsam größer wurde und auf eine seltsame Art „rhythmisch“  über den Bildschirm schwebte. Auf einmal zerfiel der Lichtschein in Buchstaben und bildete einen Satz:

„Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.“

Anna griff Angies Hand noch fester. Jetzt konnten sie die Augen nicht mehr vom Monitor losreißen. Der Satz, der sich aus dem Lichtkegel gebildet hatte, teilte sich und erschien ein zweites Mal:

„Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.“

Kaum war er ein zweites Mal zu lesen, da teilte sich der Satz  erneut und wieder und wieder bis der ganze Bildschirm voll war und alles Schwarz verdrängt hatte und nur noch helles Licht übrig blieb.

Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Gott ist Licht; in ihm gibt es keine Spur von Finsternis.

Anna und Angie konnten den Blick während der seltsamen Lichterschau nicht vom Bildschirm wenden. Ihr Atem ging mit jeder Teilung, mit jedem neuen Lichtersatz schneller und heftiger. Als der Monitor schließlich ganz im gleißenden Licht erstrahlte, mussten sie  schützend ihre Hände vor die Augen halten. Aber auch dann noch konnten sie durch die geschlossenen Augenlider das helle Licht erkennen. Selbst dann noch, als sie den Arm schützend vor die Augen pressten, drang das Licht durch sie hindurch.

Auf einmal erlosch das weiße Licht und der Bildschirm  wurde rot.

Ein sanftes Kaminrot erstrahlte auf dem Monitor. Sofort beruhigten sich die Augen wieder und Angie und Anna konnten nicht anders, als sofort wieder auf das Bild vor ihnen zu starren. Das Rot tat den Augen gut! Es leuchtete intensiv, aber es tat nicht weh. Dann erschien eine zweite Schriftzeile:

„Gott ist Liebe. Wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott, und Gott lebt in ihm.“

Diesmal griff Anna nicht  nach Angies Hand und auch ihr Magen war vergessen. Beide starrten nur verwundert auf die Zeile, die in roter Schrift auf rotem Grund  sehr deutlich zu lesen war, obwohl die beiden Farbtöne sich doch kaum voneinander unterschieden! 

Diesmal teilte sich die Schrift nicht. Aber sie begann zu „pulsieren“ und Wellen zu schlagen!

Als ob die Schriftzeile flüssig war, wogte die Schrift in sanften Wellen. Die Buchstaben pulsierten. Mal kleiner und dann wieder größer, als ob sie nicht Buchstaben, sondern einzelne, pumpende Herzen seien.

Nachdem die Schrift eine Weile so zu lesen war – wie lang, dafür hatten beide Mädchen kein Zeitgefühl – ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher. Angie erkannte sofort die Stimme von Johannes:

„Ich möchte euch noch Vieles sagen, aber ich möchte es nicht schriftlich tun. Ich hoffe euch zu besuchen und persönlich mit euch zu sprechen.“

Kaum waren die Worte verhallt, fuhr der Computer runter.

Kurze Zeit passierte gar nichts.

Dann aber, mit einem Male, entlud sich Anna:

„Angie! Was war das?

„Das war Johannes!“ antwortete sie ohne auch nur im Entferntesten so aus dem Häuschen zu sein wie Anna. 

„Ich habe dir noch nicht von Johannes erzählt, aber er ist vorhin mit mir im Garten der alten Mamsell gewesen“ klärte sie nun ihre Freundin vollends auf. „ Ich hatte Matthias gefragt, ob es Gott gibt, und ob er Gott schon mal gesehen habe.“ 

Anna sah gespannt auf die Lippen ihrer besten Freundin, so als ob es nicht genügte, allein den Ohren zu vertrauen. Angie berichtete weiter von dem Treffen mit Matthias. 

„Matthias hat mir Johannes vorgestellt. Du weißt ja: auch Johannes ist ein Evangelist. Matthias meinte, Johannes kann meine Fragen am Besten beantworten. Er habe zumindest am Klarsten dazu im Neuen Testament geschrieben.“

Anna konnte nicht mehr sitzen. Alles in ihr war in Aufregung, nichts in ihr war mehr ruhig. Sie musste sich jetzt einfach bewegen. Sie sprang auf und wie ein gefangenes Tier im Käfig, ging von einer Seite ihres Zimmers zur anderen. 

Hastig. Unruhig. Ziellos. 

Die Hände abwechselnd in die Seiten gestützt und dann wieder an die Stirn gelegt. 

„Ich kann´s nicht fassen, Angie!“ sagte sie, nachdem sie ein paar Mal hin und her gewandert war. „Wir haben eben mit Johannes Kontakt gehabt. Er hat zu uns gesprochen…“ 

Anna war wirklich sehr aufgeregt. „Und er hat uns geschrieben.“ 

Fassungslos sah sie Angie an.  

„Ich weiß“, antwortete Angie. Sie lachte: „Jetzt krieg dich mal wieder ein.“ 

„Wieso soll ich mich wieder einkriegen? Ich werde mich nie wieder einkriegen! Ich habe die Stimme von Johannes gehört! Seine Schrift war auf meinem Computer!“ 

„Na und?“ lachte erneut Angie, die sich selber wunderte, wie cool sie blieb. „Das, was wir gelesen und das, was wir gehört haben, war doch nur das, was auch in der Bibel steht und jeder lesen kann.“

Kaum hatte Anna das gehört, rannte sie auch schon zum Bücherschrank. Schnell hatte sie ihr Neues Testament gefunden. Ungeduldig begann sie zu blättern. Es dauerte gar nicht lange und sie hatte die Briefe von Johannes gefunden. Anna kam wieder hinüber zu Angie und setzte sich neben sie. Wieder waren beide überrascht!

Sie starrten gebannt auf den ersten Brief: Mit kaminroter Schrift waren dort tatsächlich die beiden Sätze unterstrichen, die sie eben noch in Lichterschrift und mit pulsierenden Buchstaben auf dem Monitor gelesen hatten. 

„Ich werde wahnsinnig“ stöhnte Anna und fand als erste Worte. 

Angie war jetzt nicht mehr so cool wie noch vorhin. 

„Toll nicht?“ staunte sie beinahe andächtig. Dann blätterten sie eine Seite weiter und fanden auch den Satz, den Johannes gesprochen hatte. Im Zweiten Brief von Johannes  standen tatsächlich die Worte, die eben noch aus dem Lautsprecher geklungen waren. Sie waren ebenso in roter Schrift markiert  und kündigten die Fortsetzung des Erlebten an. Johannes würde sich ganz gewiss wieder melden. Ja er würde sie beide sogar besuchen. Anna schaute erst auf die Schrift, dann in die Augen ihrer Freundin. 

„Unheimlich, oder?“

„Oder wunderbar, nicht?“ antwortete Angie. 

Sie starrten eine Weile gemeinsam – ohne etwas zu sagen – auf die unterstrichenen Botschaften. Dann begann Anna:

„Ich habe das noch nie gehört: Gott ist Licht! Oder auch Gott ist Liebe!“ 

Sie war wieder aufgestanden. Angie fürchtete, dass Anna schon wieder durch das Zimmer hin und her „tigern“ würde, aber statt dessen legte sich ihre Freundin auf den Teppich vor den Kamin. 

„Ich habe immer gedacht, Gott ist … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“ 

Sie drehte sich auf den Rücken und  starrte nun die Zimmerdecke an, als ob sie den Himmel suchte. Angie legte sich neben sie. Gemeinsam blickten sie nach oben. 

„Ich habe Matthias gefragt, wie Gott aussieht, und ob er ihn schon mal gesehen hat. Matthias hat ein bisschen gelacht und gemeint, dass jeder von uns ihn sehen kann.“

Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens, berichtete sie weiter von dem, was sie gehört hatte. 

„Er meinte, immer dort, wo ein Mensch einen anderen Menschen liebt…“ , Angie sprach jetzt sehr langsam, als wollte sie kein Wort vergessen, von dem, was Matthias ihr erzählt und erklärt hatte, „…da ereignet sich Gott.“ 

Sie machte erneut eine Pause und drehte den Kopf Anna zu. 

„Ja. Das hat er gesagt! Und dann  hat Matthias gesagt, dass, wenn ich liebe…“, sie versuchte sich an jedes einzelne Wort zu erinnern, „… dann liebt Gott durch mich!“ 

Angie schaute in das Gesicht ihrer besten Freundin, um irgendeine Reaktion darin zu finden. 

„Ist das schön, Angie!“ sagte Anna und jetzt klang  ihre Stimme fast feierlich. So bewegt war sie von dem Gedanken, dass Gott sehr nah und sogar durch sie selbst in die Welt  kommen konnte. 

„Darüber habe ich noch niemals nachgedacht! Ich habe immer gedacht…“, jetzt wusste sie wieder, wie sie es formulieren konnte, „… Gott ist weit weg da oben…“ sie zeigte in Richtung Himmel, „…und passt von dort aus auf. Er sitzt irgendwo auf seinem Thron und schreibt unsere Sünden auf.“ 

Sie schaute Angie an. 

„Naja und manchmal hilft er uns natürlich  auch“ fügte sie schnell hinzu, als ob sie das ganz vergessen habe. „Das habe ich jedenfalls bisher immer gedacht.“ 

„Ich glaube wir müssen Einiges umdenken!“ antwortete Angie. „Vielleicht ist Gott tatsächlich ganz anders als wir alle denken.“ 

Sie machte eine bedeutungsschwere Unterbrechung. „Und wir sind vielleicht tatsächlich Engel, wenn wir lieben und Gott so durch uns in die Welt kommt, um das Böse zu verhindern…“

Sie lagen noch eine Weile auf dem Rücken und starrten die Decke an. Jede ging ihren Gedanken an. 

Dann stand Angie auf und zog Anna hoch. 

„Lass uns noch Joggen gehen. Ich glaube, dass tut uns gut. Wir dürfen unsere Staffel nicht hängen lassen. Wenn die anderen erfahren, dass wir nichts für das kommende Wochenende getan haben, nageln die uns ans Kreuz!“ 

Anna lachte. 

„Also Vergleiche hast du! Aber du hast Recht. Wir müssen noch trainieren, sonst wird das nichts mit unserem Wettkampf in Köln!“ 

Sie ging zur Schublade ihres Schreibtischs und zog ein Blatt Papier hervor. 

„Das hat mir Frau Kramer für uns beide mitgegeben. Von wegen Jogging! Wir sollen ein paar Tempoläufe machen!“ 

Angie grinste Anna an. „Na dann machen wir mal Tempo!“

In Windeseile hatten sie sich umgezogen. Dann trabten  sie zum Gartentor hinaus in Richtung Fluss. 

Ich bin ein Engel, schoss es Angie dabei  immer wieder durch den Kopf.  Ich bin ein Engel! 

Doch je mehr sie lief und je mehr sie sich anstrengte, desto mehr veränderte sich der Sinn der Worte, obwohl die Worte blieben. Doch sie formten sich, ohne dass Angie es bewusst steuern konnte, um:

Bin ich ein Engel? 

So schnell, wie ihr Herz schlug, so schnell hämmerte  diese Frage im Kopf. Immer eindringlicher, schlug die Frage auf sie ein, bis  es schließlich weh tat: Bin ich ein Engel?  

Angie wusste es nicht. Aber sie spürte, dass sie die Antwort finden musste.