Gottes kleine Faust – Kapitel 17: Wettkampf um acht

Der Montag begann regnerisch. Das herrliche Spätsommerwetter vom Wochenende war wie weggeflogen oder es machte zumindest eine Pause. Keine Unterbrechung kannte Angies gute Stimmung. Sie freute sich auf die erste Schulwoche mit Matthias. Ob er seine Hausaufgaben tatsächlich ganz „normal“ gemacht hatte? Wie würde er im Sportunterricht zurecht kommen und wie in den Fremdsprachen? Religion bei Frau Quentin würde sicher mit ihm nun sehr viel interessanter werden. Ob er ihr mal so richtig „Bescheid“ sagte? Sie radelte munter durch den Regen, der an ihr abperlte, als sei sie selber eine Regenhaut. Regen ist lustig, dachte sie fröhlich und versuchte, mit der Zunge Tropfen aufzufangen.

Matthias war schon da. Er saß an seinem alten Platz und die ganze Horde Jungs stand um ihn herum. Einige Mädchen waren auch dabei. Was war da los? Ob ich ihm zu Hilfe kommen soll, dachte sie besorgt? Da meldete sich plötzlich im Flüsterton eine Stimme in ihrem Ohr: „Danke, aber lass gut sein, das schaff ich schon alleine!“
Es war die vertraute Stimme von Matthias! Er hatte sie doch noch gar nicht sehen können! Mit dem Rücken zu ihr gekehrt, verdeckten zudem noch die Jungs die Sicht zur Tür.
„Setz dich hin. Ich habe alles im Griff. Und übrigens… guten Morgen, Angie!“ flüsterte es geheimnisvoll in ihrem Ohr. Angie musste unbedingt näher heran.

„Mit mir bitte auch, Matthias!“
„Und mit mir auch!“
„Nein! Ich bin der nächste!“
Was ging da vor?

Als Angie noch näher rückte, sah sie Matthias mit dem dicken Harald. Sie konnte es kaum fassen: Matthias saß mit Harald am Tisch. Beide saßen einander gegenüber. Und beide machten einen Wettkampf im Armdrücken!

Die Jungen standen dicht an dicht und jeder wollte gegen den Neuen antreten. Das Erstaunliche war, dass er scheinbar noch nicht verloren hatte. Mit respektvollem Abstand umringten die Jungs die Kämpfenden. Dass Matthias mit seinen großen Händen auch automatisch starke Muskeln in den Armen versteckt hielt, überraschte alle. Damit hatten sie nicht gerechnet. Vielleicht war er ja doch eine „Sportskanone“? Harald jedenfalls galt als der „Muskelprotz“ der Klasse. Er war zwar nur mäßig im Fußball, aber in punkto Stärke konnte es keiner mit ihm aufnehmen. Im Ringen und im Kugelstoßen war er ein absolutes Ass.

Angie hatte sich jetzt bis ganz an den Tisch der beiden vorgearbeitet und beobachtete den Zweikampf aus der Nähe.

Harald hatte kleine Schweißperlchen auf der Stirn. Matthias wirkte auch nicht mehr ganz frisch, aber er schien noch etwas in der „Hinterhand“ zu haben. Beide schauten sich in die Augen und versuchten „mentale“ Stärke zu zeigen, indem sie möglichst cool und lässig lächelten.

Der Kampf dauerte jetzt schon volle zwei Minuten! Das war absolut ungewöhnlich. Harald brauchte sonst nur wenige Sekunden, um die Faust seines Kontrahenten auf den Tisch zu schmettern. Diesmal aber hatte er ungewöhnliche Mühe mit seinem Gegenüber. Haralds Augen, die eben noch überheblich in die Runde geschaut hatten, verengten sich nun ängstlich. Konnte er sich eine Niederlage gegen den Neuen leisten? Würden sie nicht alle anfangen über ihn zu lachen?

So oder so ähnlich mussten Haralds Gedanken hinter der breiten Stirn in Windeseile ablaufen, das spürte Angie deutlich. Die Gedanken von Matthias konnte sie nicht ablesen oder erraten. Der saß da und beobachtete ganz seelenruhig seinen Gegner. Er schien sich nur auf Harald zu konzentrieren. Weder Furcht noch Nervosität oder eine Reaktion auf das feixende Publikum spiegelten sich in seinem Gesicht.

Auf einmal ertönte der Schulgong. Die erste Stunde begann. Gleich würde Herr Walke, der Klassenlehrer erscheinen. Würde der Wettkampf vorher beendet sein? Herr Walke mochte zwar solche Zweikämpfe – aber er mochte sie nicht während des Unterrichts! Wer würde also vor der Ankunft des Lehrers gewinnen?

Harald unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch, den Arm von Matthias auf den Tisch zu drücken, doch dieser parierte die Attacke erneut, ohne selbst einen deutlichen Vorteil aus dem Konter zu ziehen. Plötzlich öffnete Matthias den Mund. Er schlug vor:
„Was hältst du von einem Unentschieden? Ich glaube, wir sind gleich stark.“
Harald war viel zu erstaunt, um spontan antworten zu können und auch die anderen wunderten sich über diesen Vorschlag. So etwas hatte es bisher noch nicht gegeben. Unentschieden im Armdrücken – was sollte das denn? Früher oder später hatte es immer einen Sieger geben! Das musste doch einfach nur ausgekämpft werden. So was konnte man doch nicht ausdiskutieren. Da gewann man oder man verlor.

Auch Angie war überrascht. Warum konnte Matthias nicht gewinnen? Er war doch ein Engel! Er konnte in ihr Tagebuch schreiben ohne in der Nähe zu sein, er konnte ins Wasser schreiben und Buchstaben blieben zurück, er traf Menschen aus vergangenen Jahrtausenden, er konnte Gedanken lesen und er konnte geheim zu ihr flüstern… Warum konnte er nicht diesen Kampf gewinnen? Hatte Matthias die Situation vielleicht doch nicht im „Griff“, wie er vorhin behauptet hatte?
Diesmal antwortete Matthias nicht im Flüsterton. Er antwortete überhaupt nicht, sondern blieb still. Er konzentrierte sich scheinbar nur auf sein Gegenüber. Was würde Harald antworten?

Die Sekunden verrannen. Sie dehnten sich scheinbar in Minuten. Die Spannung stieg unaufhörlich. Jeden Moment würde Herr Walke hereinkommen, dann wäre der Kampf unterbrochen; ohne Sieger, und der Wettkampf müsste wiederholt werden. Dann hätte jeder sein Gesicht gewahrt und die Entscheidung wäre vertagt. So erwarteten es alle. Doch nun machte der Neue diesen sonderbaren Vorschlag. Ob er nicht mehr konnte?
Noch einmal feuerten die Mitschüler Harald an. Aber Harald sah nicht aus, wie einer, der noch gewinnen konnte. Sein Gesicht war hochrot, sein Atem ging ungewöhnlich schnell und sein Arm begann zu zittern. Gleich würde er den Kampf verloren haben, wenn Herr Walke nicht schnell genug den Klassenraum betrat.

Komm. Mach schon, Matthias, dachte Angie „laut“, in der Hoffnung, Matthias hörte sie.

„Es geht nicht.“, antwortete jetzt Matthias flüsternd in ihrem Ohr, ohne dass sich seine Lippen für die anderen erkennbar bewegt hätten. Angie war erstaunt. Sie hörte ihn, aber verstehen konnte sie ihn trotzdem nicht. Es geht nicht ?
Warum denn nicht? Du bist doch ein Engel… dachte sie „zurück“.
„Das erkläre ich dir später“, antwortete Matthias unbemerkt für die anderen.

Dann passierte das Überraschende für alle: Harald sagte laut:
„Also gut! Unentschieden.“

Und dann ließen beide los und schüttelten sich die Hände wie faire Sportsmänner. Das ging alles so schnell, dass es die Umstehenden kaum begreifen konnten. Jetzt fügte Harald sogar noch hinzu:
„Mensch Matthias! Du bist ja echt krass! Mal ehrlich: dass du so stark bist, hätte ich nie für möglich gehalten. Du bist hier richtig! Willkommen bei uns!“

Die Klasse war erst recht „baff“! So eine Ehrung für den Neuen durch Harald! Das war ja schon wieder etwas Besonderes! Auf einmal tobte und johlte die ganze Klasse. Es wurde laut gejubelt und geklatscht. Erst klopfte Harald Matthias auf die Schulter, dann schlugen alle anderen Jungs und etliche Mädchen ihm anerkennend auf den Rücken. Die Spannung löste sich. Matthias war jetzt endgültig in die Klasse aufgenommen!

Mitten im Jubel und Hallo war nicht bemerkt worden, dass Herr Walke bereits in die Klasse gekommen war. Er lehnte halb sitzend, halb stehend schon längst am Lehrerpult, ohne dass die Klasse davon schon etwas mitbekommen hatte.
„Kann mir bitte schön einer den Grund für den lauten Trubel nennen?“, rief er in den Lärm der Klasse herein.
Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Alle eilten zu ihren Sitzplätzen.
„Nun? Ich möchte wissen, was hier los ist?“
Er stand jetzt vor der Klasse und sah fragend, beinahe streng, in alle Bankreihen hinein.
„So einen Jubel bin ich ja gar nicht gewohnt, wenn ich in die Klasse komme.“
Er machte eine kleine Pause und ging hinter das Pult.
„Eher wenn ich gehe.“
Herr Walke sah jetzt schon deutlich entspannter aus. Die Klasse atmete kollektiv auf.
„Und dann muss ich erkennen, dass der Jubel gar nicht mir, sondern einem ganz anderen Ereignis gilt“, fuhr er fort. Wieder schaute er von Bank zu Bank.
„Also? Was gibt es zu feiern?“
Jaqueline meldete sich.
„Matthias ist genauso stark wie Harald, Herr Walke. Und das soll schon was heißen!“

Sie schauten jetzt auf Herrn Walke. Der sah erst zu Harald, dann zu Matthias. Harald grinste und hob entschuldigend die Hände.
„Ich habe alles gegeben, Herr Walke! Aber Matthias hat´s echt drauf, ehrlich!“
Alle lachten und sahen jetzt hinüber zu Matthias. Auch Herr Walke wendete sich Matthias zu. Matthias grinste jetzt ebenfalls. Und während er sich auffällig mit der linken Hand den rechten Arm massierte, sagte er zur ganzen Klasse gewandt:
„Ich habe echt gedacht, Harald „schraubt“ mir gleich den Arm ab.“
Und dann fügte er noch in Richtung des Lehrers hinzu:
„Konnten sie denn nicht früher kommen, Herr Walke?“
Jetzt lachte auch Herr Walke über das ganze Gesicht. Er hatte verstanden.

Dennoch sollte die Klasse nicht so einfach davon kommen. Er wollte ihnen doch zeigen, wer der Herr im Hause war und dass, wenn der Lehrer die Klasse betritt, der Unterricht beginnt.

 

 

 

„Eigentlich wollte ich den Tag ja netter beginnen und einen Film zeigen. Aber jetzt fangen wir erst mal mit „Plan B“ an“, kündigte der Klassenlehrer Unangenehmes an:
„Vokabeltest in Stadt-Land-Fluss!“

Seine Stimme klang jetzt wieder lauter und irgendwie auch bedrohlich. Jedenfalls für die meisten…
Die Klasse hatte die Überprüfung liebevoll „Vokabeltest in Stadt-Land-Fluss“ getauft. Einer würde nun gleich an die Tafel geschickt werden, während alle anderen die Aufgaben im Heft an den Tischen lösen mussten.

Herr Walke sah sich auch schon suchend in der Klasse um. Jeder hoffte inständig, dass er ihn oder sie verschonen möge. „Nur jetzt nicht! Bitte nicht heute!“ dachten die allermeisten. Angie fürchtete sich nicht. Sie war gut in Erdkunde. Das hing vielleicht mit ihren vielen Wettkampfreisen zusammen. Sie interessierte sich für Länder, Städte und Flüsse. Erdkunde und Sport waren ihre Lieblingsfächer. Aber sie kam nicht dran.
„Los ihr zwei! Wollen wir doch mal sehen, ob ihr beiden in Erdkunde genauso gut drauf seid, wie im Armdrücken“, sagte jetzt Herr Walke mit spitzbübisch-ironischen Unterton.
„Matthias nach rechts, Harald nach links. Und klappt die Tafel weit genug um. Wir wollen uns die Spannung aufheben, wer diesmal gewinnt.“
Er lächelte süffisant und fand sich wahrscheinlich besonders komisch.

Angie fühlte erneut die bedrohliche Situation für Matthias schmerzlich mit. Au Backe, dachte sie!
„Da sind wir ja wieder einmal derselben Meinung“ flüsterte Matthias in ihrem Ohr.
Angies Stirn zog sich in Falten. War das geblufft oder ernst gemeint? Warum zeigte Matthias schon wieder „Schwächen“? Das konnte für ihn doch alles nicht wirklich ein Problem sein. Nicht für einen Engel. Diesmal bekam sie keine Antwort.

„Los kommt schon nach vorne!“ rief Herr Walke, der schon an seinen Lieblingsplatz am Fenster stand und ungeduldig wartete. Harald und Matthias schlichen irgendwie „unheldisch“ nach vorne. Echte Kerle sahen anders aus. Die beiden Helden von eben wirkten eher so, als ob sie „Schiss in der Hose hatten“. Sie fürchteten, sich zu blamieren, das sah man deutlich. Harald war gar nicht gut in Geographie, dass war allen seit Jahren bekannt. Aber wie würde sich Matthias aus der Affäre ziehen. Nicht nur Angie war sehr gespannt darauf.

„Wie heißt die Hauptstadt von Peru?“, begann Herr Walke.
Leichtes Aufstöhnen war in der Klasse zu hören. Angie wusste die Antwort sofort. Sie schrieb „Lima“ in ihr Heft. Harald und Matthias, deren Gesichter man hinter der Tafel nicht erkennen konnte, hatten die Antwort noch nicht gefunden. Angie wurde unruhig. Sie versuchte, Matthias die Antwort durch „Gedankenübertragung“ zuzustecken.
„Lima, Lima, Lima!“ sagte sie „gedacht“ immerfort vor sich hin.
„Danke Angie.“, hörte sie sofort die Stimme von Matthias in ihrem Ohr. „Aber da muss ich selbst durch. Ich darf meine Kräfte nicht für so was missbrauchen. Das erkläre ich dir später in der Pause. Jetzt muss ich mich konzentrieren. Vielleicht komme ich auch so auf eine richtige Antwort. Drück mir die Daumen!“

Angie verstand nicht, warum Matthias die Lösung nicht wusste. Und sie begriff noch viel weniger, warum ihr Freund nicht ihre Hilfe annahm.
Waren Engel „dumm“?
Konnten sie nicht Gott bitten, dass er alles für sie tat, wenn sie Hilfe brauchten?
Wozu war man denn Engel, wenn man zwar helfen sollte, aber keine Hilfe annehmen durfte?

Angie rauchte der Kopf! Aber nicht von den Erdkundefragen. Ihre eigenen Gedanken verursachten die Kopfschmerzen.

„Als siebtes möchte ich den Fluss wissen, der durch Rom fließt!“, hörte Angie jetzt wieder die Lehrerstimme zu ihr dringen.
Mein Gott, dachte sie erschreckt! Ich habe geträumt! Wir sind schon bei Nr. 7! Was mache ich bloß?
Schnell schrieb sie „Tiber“ auf und gleichzeitig versuchte sie, einen Blick auf das Blatt ihrer Nachbarin Beatrice zu werfen. Gekonnt kopierte sie ungeprüft ein paar Lösungen von ihr.

„Nummer 8: Welches Gebirge trennt Frankreich von Spanien?“
Herr Walke machte die erforderliche Pause, in der Angie „Pyrenäen“ aufschrieb. Dann setzte er fort.
„Wie heißt die Hauptstadt von Israel?“
Angie wusste die Antwort nicht, aber diesmal bemerkte sie erfreut, dass Matthias eine Antwort schrieb. Vielleicht sah es für ihn ja gar nicht so schlecht aus?
„Und als Letztes: Durch wie viele Länder fließt die Donau?“

Herr Walke verließ seinen Platz am Fenster und ging durch die Klasse.
„Habt ihr´s? Dann wollen wir uns mal die Lösungen anschauen. Ihr tauscht bitte die Zettel mit eurem Nachbarn und korrigiert euch gegenseitig. Die richtigen Lösungen könnt ihr euch von der Tafel abschreiben.“
Er war jetzt vorne angelangt. „Seid ihr fertig?“ Und mit Schwung klappte er die Tafel auseinander.

Alle schauten gespannt nach vorne. Am meisten gespannt war Angie, aber sie wagte es nicht, zur Tafel zu sehen. Sie hielt ihren Blick gesenkt auf ihr Heft und hörte nur auf die Reaktionen der Klasse.

„Na, das habt ihr ja wieder prima hinbekommen“, hörte sie jetzt Herrn Walke in das fröhliche Gekicher der Klasse rufen. „Schon wieder unentschieden!“

Jetzt jubelte und johlte die Klasse beinahe wie vorhin und manche klatschten sogar. Nun konnte auch Angie sich nicht mehr zurückhalten. Sie hob den Kopf und blickte nach vorn. Harald hatte zehn Mal geantwortet, aber, wie Angie sofort erkannte, nur zwei richtige Lösungen. Matthias hingegen hatte nur zwei Mal geantwortet. Beide Antworten waren immerhin richtig: Der Tiber als Fluss, der durch Rom fließt und Jerusalem, als Hauptstadt von Israel. Jetzt fiel auch ihr wieder die richtige Lösung ein.

Der Erdkundelehrer ging jetzt jede Frage und jede Antwort mit der Klasse durch. Angie beobachtete Matthias. Während Harald verlegen den Klassenclown spielte, verhielt er sich trotz des sehr schlechten Ergebnisses auffällig ruhig und wirkte irgendwie stolz. Als sei zumindest er mit sich zufrieden, stand er aufrecht die Schmähungen und Sticheleien der Klasse und des Klassenlehrers durch. Und obwohl sich Angie noch immer wunderte, warum Matthias nicht mit „Gottes Hilfe“ oder mit anderen „Kräften“ besser abgeschnitten hatte, bewunderte sie doch, wie er alles ertrug. Den Stolz und die Ruhe, die er ausstrahlte, waren auf ihre Art schon toll, dachte Angie. Aber waren sie übermenschlich oder sogar himmlisch, wie bei einem Engel zu erwarten war? Ungeduldig wartete sie, dass die Stunde endlich vorüber ging. Sie musste unbedingt mit Matthias reden.