Gottes kleine Faust – Kapitel 19: Rechnen mit Jesus

Matthias rutschte vom Lehrertisch hinunter und lehnte sich jetzt so an den Tisch, wie es zuvor der Erdkundelehrer getan hatte. Dann er erklärte er:
„Wenn Jesus Beispiele verwendete, dann gebrauchte er selbst den Ausdruck Gleichnisse. Der Ausdruck ist heutzutage fremd geworden. Früher verstand jedes Kind diesen Begriff sofort. Ich helfe dir, ihn zu verstehen. Pass mal auf!“

Matthias drehte sich von Angie weg und ging an die Tafel. Er nahm ein Stück Kreide und dann schrieb er, als sei er ein Mathematiklehrer, Aufgaben an:

1) 2 + 3 = 4 +1

2) 2 + x = 4 + y

3) z + x = 4 + y

4) z + x = u + y

Als er damit fertig war, wandte er sich wieder Angie zu.
„Habt ihr in Mathe diese Art von Aufgaben schon gehabt?“
Angie verdrehte die Augen.
„Na klar, das sind Gleichungen. Ich mag sie nicht besonders. Aber ich fühle mich immer richtig gut, wenn ich eine schwere Gleichung rausbekommen habe, ohne bei Beatrice abgeschrieben zu haben.“
„So wie du vorhin von ihr in Erdkunde abgeschrieben hast, was ?“
„Das hast du mitbekommen?“ Angie staunte nicht schlecht. „Ich dachte, da hattest du ganz schön mit dir selbst hinter der Tafel zu tun?“
„Hatte ich auch.“, lachte Matthias. „ Doch für dich, das weißt du ja jetzt, habe ich immer eine Art „sechsten Sinn“ übrig!“
Beide lachten sich an. Dann fragte Angie weiter:
„Aber warum hast du jetzt die Gleichungen aufgeschrieben?“
„ Weil Gleichungen ähnlich sind wie Gleichnisse.“, erklärte Matthias jetzt wieder ernst.
„ Schau noch mal an die Tafel!“, forderte er Angie auf. Er zeigte mit dem Zeigestock auf das Gleichheitszeichen in der Mitte von jeder einzelnen Gleichung und war wieder ganz auf seine Lehrerrolle konzentriert:
„So wie auf der linken Seite der Gleichung immer genau derselbe Wert ist, wie auf der rechten Seite, so ist es auch in etwa in den Gleichnissen Jesu. Auch er stellte in manchen seiner Gleichnisse ganz einfache Aufgaben, die man sehr leicht lösen und deswegen prima verstehen kann. So, wie ich es in den Gleichungen eins und zwei gemacht habe.“
Er zeigte mit dem Zeigestock auf die beiden ersten Gleichungen.
„Und er erzählte schwer verständliche Gleichnisse, die für die meisten Zuhörer so schwer zu entschlüsseln waren, wie diese Gleichungen hier“.
Er zeigte auf die Aufgaben drei und vier.

„Und warum erzählte er überhaupt Geschichten, die Rätsel oder Aufgaben enthielten? Rannten da nicht alle gleich weit weg?“ fragte Angie.

 
„Im Gegenteil, Angie. Denn du musst wissen, dass man im Orient sogar heute noch gute Erzählungen, Geschichten und Rätsel liebt. Und wenn eine Geschichte eine Denkaufgabe oder Rätsel enthielt, die den Geist anstrengte und den Verstand schulte, dann war sie um so interessanter. Dann versuchte man alles, um die Erzählteile „links vom Gleichheitszeichen“ gleich denen zu setzen „rechts vom Gleichheitszeichen“. So wie du dich bei einer gelösten schweren Gleichung besser fühlst, war man froh, wenn man die Aufgabe, die in einem Gleichnis steckte, lösen konnte.“

Irgendwie verstand Angie, was Matthias meinte, aber irgendwie auch noch überhaupt nicht.

Sie fragte also nach:
„Jesus erzählte also unterschiedlich schwere Gleichnisse, so wie es unterschiedlich schwere Gleichungen gibt. Richtig?“
„Korrekt!“, antwortete Matthias.

„Das habe ich also verstanden.“, lobte sich Angie selbst. „ Aber was heißt bei einem Gleichnis „links und rechts des Gleichheitszeichen“ ? Angie schüttelte verwirrt den Kopf.

„Ich mache dir ein Beispiel“, half Matthias, „ Pass auf, eine Aufgabe zum Üben: Eine gute Englisch-Arbeit geschrieben zu haben, ist genau so schön, wie einen erfolgreichen Sport-wettkampf bestritten zu haben“.

Hoffnungsvoll schaute er Angie an. Sie schien jetzt verstanden zu haben:
„Du meinst, dass ein Test in der Schule genauso schwer ist, wie auf der anderen Seite ein Wettkampf?“
„Treffer und versenkt. Du hast das Gleichnis gelöst. Prima!“

Angie atmete erleichtert auf. „Und wie schwer war die „Gleichung“?“ , fragte sie lachend. „Naja“, grinste nun auch Matthias, „so wie diese hier“, und dabei zeigte er auf die Aufgabe zwei der Tafel.

Angie war jetzt endgültig neugierig, ein Gleichnis von Jesus zu hören. Außerdem wollte sie endlich wissen, wie Jesus das Böse erklärte.
Deswegen fragte sie ungeduldig Matthias:
„Nun erzähle mir schon endlich das Gleichnis von Jesus und dem Bösen! Du hast doch gesagt, wir haben nicht mehr viel Zeit!“

Ein Blick auf Matthias genügte, um zu erkennen, dass sie das lieber nicht, oder lieber nicht so gesagt hätte. Es war, als fiele ein Schatten auf sein Gesicht, obwohl noch immer die Sonne draußen schien.
„Ach Angie,“ sagte er betrübt. „Wenn du schon wüsstest, was bald auf dich zukommt, wärst du nicht so fröhlich.“
Er schaute sie an, als sah er durch sie hindurch. Als sei sie ein Spiegel.
„Wir können uns jetzt jede Zeit der Welt nehmen, aber schon bald, wird die Zeit knapp werden!“

War das ein Gleichnis? Angie verstand nicht, was Mathias damit meinte. Sie verstand auf einmal gar nichts mehr. Warum war Matthias plötzlich so traurig? Hatte das mit dem Bösen zu tun?

 

Sie fröstelte. Sie begann, sich auf einmal unwohl zu fühlen. Von jetzt auf gleich bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie spürte unwillkürlich eine Bedrohung auf sie zukommen. Nicht jetzt. Aber bald, hämmerte es erst leise, dann aber immer lauter in ihrem Kopf. Eine Furcht stieg in ihr auf.

Wie damals bei Anna, spürte sie auch jetzt diese seltsame Panik aufsteigen, nur langsamer und nicht als Explosion. Eher schleichend, eine anschleichende Furcht.

Sie schaute Matthias an, der selbst in Gedanken versunken schien. Konnte Matthias nicht das Böse fernhalten? Er war doch ein Engel.
Oder würde er wieder nichts machen können, wie im Erdkundetest?
Sie atmete schneller. Ihre Stirn wurde ganz heiß. Sie wollte nach Hause!

„Du musst dich nicht fürchten, Angie!“, meldete sich jetzt wieder Matthias. Er hatte wieder seinen Arm um Angie gelegt, wie zu Beginn der Pause.
„Was auch immer geschieht: das LICHT ist stärker als der Schatten!“
Er packte sie jetzt sanft, aber dennoch mit Nachdruck an beiden Schultern und suchte den direkten Blick zu ihr.
„Wenn du das nicht vergisst“ , er machte eine kurze Pause, dann begann er den Satz noch einmal, aber anders, rätselhafter:
„Wenn du dieses Gleichnis lösen kannst, dann wird alles gut werden. Das verspreche ich dir!“

Matthias zog sie dicht an sich heran und umarmte sie nun mit beiden Armen. Angie wusste nicht wirklich, wie sie sich fühlte oder fühlen sollte. Wenn Matthias so in Rätseln sprach, verwirrte sie das sehr. Einerseits beunruhigte sie, was er sagte, andererseits beruhigte es sie, wie er es sagte. Sein Auftreten, seine ganze Erscheinung, seine Nähe taten ihr auf einmal sehr gut. Die Panik verebbte. Aber sie hatte Angst, was passieren würde, wenn Matthias sie los ließe und nicht mehr bei ihr wäre. Noch ruhte ihr Kopf an seiner Schulter und sie „tankte“ ein wenig Mut. Sie konnte sich zusammenreißen und erneut fragen:
„Also was ist nun mit dem Gleichnis? Wirst du es mir erzählen?“

„Natürlich mache ich das. Deswegen bin ich doch da. Ich werde dir alles erzählen, wonach du fragst. Das ist mein Auftrag. Das weißt du doch. Auch wenn das, was du hören wirst, nicht immer gleich verständlich sein wird. Aber nur für dich bin ich jetzt hier.“

Sie schauten gemeinsam auf die Gleichungen, die langsam an der Tafel verblassten und auf einmal ganz verschwunden waren.
„Ich glaube aber, wir sollten auch erst einmal eine kleine Pause machen und den „normalen Unterricht“ wieder anlaufen lassen. Was meinst du?“, fragte Matthias.
Angie sah ihn missmutig an.
„Muss dass sein? Ich glaube, ich kann mich gar nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren. Mir schwirren so viele Gedanken durch den Kopf.“
„Dann muss ich mal nachdenken…“ , lächelte Matthias und augenblicklich ertönte der Schulgong.

 

Die Klasse strömte in Windeseile herbei. Alles war auf einmal wieder so, als sei gar nichts Besonderes passiert. Kaum waren die letzten im Klassenraum, kam Frau von Roose, die Englischlehrerin. Sie stellte ihre große rote Tasche auf den Tisch der ersten Reihe und holte zur Begrüßung gleich ihre 27 Lektürebüchlein heraus: „ Nothing to lose“. Ein sanftes, gemeinschaftliches Stöhnen füllte den Raum. Hilfesuchend sah Angie Matthias an. Zu ihrer Überraschung hielt er wieder die Hand so merkwürdig geformt. Gespannt wartete sie ab, was als Nächstes passieren würde.
Da klopfte es an der Tür und die Schulsekretärin Frau Hirt streckte den Kopf in den Raum hinein.
„Darf ich bitte einmal kurz stören, Frau von Roose?“
Die Englischlehrerin nickte freundlich.
„We have not startet yet. You are welcome.“
“Danke schön.”, antwortete Frau Hirt. Ihre Augen suchten bereits die Klasse ab.
„Ist Angelika Faust hier?“
„Ja.“, meldete sich Angie.
„Du möchtest bitte nach Hause kommen. Deine Mutter hat angerufen.“
Angie erschrak fürchterlich. War vielleicht etwas Schlimmes passiert? Doch die Sekretärin beruhigte sie sofort.
„Du musst dir keine Sorgen machen. Aber ich glaube ihr habt unerwarteten Besuch bekommen. Jedenfalls sollst du sofort nach Haus kommen.“

Angie war noch immer verwirrt. Unerwarteter Besuch? Wer sollte das sein? Ein Blick auf Matthias beruhigte sie. Der grinste verschmitzt über das ganze Gesicht und doch versuchte er beinahe krampfartig, sie nicht anzusehen. Jetzt musste auch Angie grinsen. Sie packte ihre Sachen mit dem Gesicht in Richtung Tisch ein, in der Hoffnung, niemand würde es bemerken.
„Wie hat sie denn das geschafft?“ hörte sie hinter sich Kathy und Biene murmeln.
Sie drehte sich kurz zu ihnen um und raunte ihnen zu:
„Don´t worry. You still have “Nothing to lose”.
Sie zwinkerte ihnen mit den Augen kurz zu und verschwand dann schnell in Richtung Tür. „What a pity you have to leave so quickly.“, verabschiedete sich die Englischlehrerin. „See you on wednesday morning. Okay?”
“Yes, Miss von Roose. It´s real a pity. Good bye everybody”.
Sie zwinkerte Beatrice noch einmal kurz zu, dann war sie auch schon zur Tür hinaus. Angie konnte es kaum fassen: Die Schule war für sie heute aus!

Im Fahrradkeller klingelte plötzlich Angies Handy. Ein Blick auf das Display verriet, dass Mama sie sprechen wollte.
„Wo steckst du denn? Ich habe die ganze Zeit versucht, dich anzurufen, Angie!“, begann Frau Faust mit Vorwürfen.
„Aber Mama, du weißt doch, dass wir in der Schule die Dinger ausmachen müssen.“
„Auch in der großen Pause? Na ja. Lass gut sein. Du Angie, ich brauch dich ganz dringend. Omi hat angerufen, dass sie kommt und ich sitze hier in der Werkstatt und komm nicht richtig voran. Wenn ich die Sachen jetzt einfach stehen und liegen lasse, dann sind meine schönen Exponate hin und ich muss noch mal von vorne beginnen. Deinem Schulleiter habe ich natürlich etwas Anderes erzählt. Hoffentlich kommt das nicht raus. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Aber mir ist keine andere Lösung eingefallen. Ich brauche dich dringend!“

 

Angie staunte nicht schlecht. Hatte da Matthias etwas „gedeichselt“ oder war die Sache „echt“?

„Was soll ich denn machen?“ fragte sie mit gespannter Erwartung.
„Du musst jetzt ganz „tapfer“ sein, hörst du? Aber du hast genau noch eine Stunde Zeit und dann muss es bei uns zu Hause glänzen wie bei „Königs“ . Du weißt doch, wie Omi ist!“
Angie schloss die Augen. Na wundervoll. Danke auch, Matthias, dachte sie und verzog den Mund. In das Handy aber sagte sie:
„Geht klar, Mami. Du kannst dich auf mich verlassen.“
„Du bist ein Engel, Schatz. Du ich muss jetzt! Sei nicht böse, Kleines“.
Dann war das Gespräch beendet.

Angie sah auf das Handy. < Okay, Matthias. Dann bin ich eben Mamas Engel. >