Gottes kleine Faust – Kapitel 20: Oma räumt auf

Angies Oma war  sehr nett. Aber sie hatte einen kleinen „Spleen“. Sie musste es immer super-sauber und super-rein haben. Das ihre Tochter einen Beruf ausübte, bei dem die Hände „im Dreck rumwühlten“, wie Oma es nannte, verstand sie gar nicht. Oma fand das eklig. Aber Angies Mutter hatte es aufgegeben, sie überzeugen zu wollen, dass Ton kein „Dreck“ war. Dass ihre Arbeit ein ernsthafter Beruf war, mit dem man sogar Geld – manchmal sogar viel Geld -verdienen konnte, begriff die alte Dame nicht. Basteln, Malen und mit Ton werken, blieben für Angies Großmutter „Kinderkram“. 

Sie selber war Lehrerin für Deutsch und Biologie gewesen. Seit ihrer Pensionierung vor drei Jahren hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt, was wiederum ihre Tochter nicht begriff: Angies Oma studierte noch einmal!  Sie hatte unbedingt vor, noch einmal zu „promovieren“, wie sie es nannte. Ihr Vater hatte Angie erklärt, dass sie sich dann „Doktor Faust“ nennen würde, was beide – Vater und Tochter – richtig komisch fanden. Aber Angie war doch auch ziemlich stolz auf so eine Oma. Sie kannte niemanden unter ihren Freunden, die eine Großmutter hatten, die Ähnliches vor hatte.  

Ihr Studium war ein sogenanntes „Fernstudium“. Das bedeutete, dass sie in der Regel zu Hause bleiben konnte und dort lernte und arbeitete. Nur von Zeit zu Zeit musste sie die Universität persönlich besuchen, um Prüfungen zu absolvieren. Dann zog Oma immer bei ihrer Tochter ein und wohnte für ein paar Tage mit ihnen zusammen unter einem Dach. Angies Opa kam bei solchen Besuchen fast nie mit. Er hatte dann immer „Urlaub“, wie er es scherzhaft nannte.   

Als Angie mit dem Fahrrad um die letzte Ecke bog, sah sie schon ihre Oma, wie sie aus dem Taxi aus- und  die Stufen zum Haus hinauf stieg. 

„Jetzt bin ich doch zu spät gekommen. So ein Mist“, ärgerte sich Angie still. Laut aber rief sie: „Hallo Omi!“ 

„Was machst du denn schon so früh hier?“ begrüßte die Großmutter ihre Enkelin  erstaunt. „Habt ihr heute keine Schule mehr?“

„Du bist aber auch sehr früh hier, Omi.“ , antwortete Angie spontan. „Ich bin für heute  schon fertig. Komm doch mit rein !“ 

Angie umarmte ihre Oma und küsste sie. Sie schloss die Tür auf. 

„Schön, dass du da bist!“ 

Sie bewunderte sich beinahe selbst dafür, dass sie nicht in Panik geriet. Hoffentlich würde die Mutter nicht enttäuscht sein, dass sie es nicht geschafft hatte, vor Oma da zu sein.

„Ich find es auch herrlich, wieder hier zu sein. Obwohl es diesmal nicht leicht werden wird. Ich muss ein ganz schweres Examen bestehen. Ach war das schön, als ich noch Lehrerin war und selbst die Prüfungen abnehmen durfte.“ 

Obwohl sie stöhnte, lächelte sie ihrer Enkelin vergnügt zu. 

„Komm mit in mein Zimmer. Ich habe dir etwas mitgebracht.“

Sie gingen die Treppe hinauf, wo die Oma immer für die Dauer ihres Aufenthaltes das  Gästezimmer bezog. Hier hätte Angie als erstes sauber machen wollen. Papa hatte nicht umsonst im Wohnzimmer übernachten müssen! Das Zimmer sah voll Gerümpel schrecklich aus. Denn immer wenn längere Zeit niemand das Gästezimmer bewohnte, wurde es  als „Rumpelkammer“ zur „Zwischenablage“ benutzt. Das konnte ja heiter werden!

„Meine Güte! Wie sieht das denn hier aus ?“ waren dann auch die nicht mehr überraschenden ersten Worte der „Mrs Clean“, wie Angies Papa die Oma wegen ihres Sauberkeits-Fimmel gerne – natürlich nur heimlich – nannte. Doch diesmal überraschte Angie  der Ton, wie ihre Oma es sagte.  

„Das sieht ja wunderbar  aus! So sauber war es hier ja noch nie. Da habt ihr euch ja wirklich Mühe gegeben. Wer hat denn hier so gut geputzt?“

Jetzt war auch Angie hinter ihrer Oma ins Zimmer getreten. Sie staunte nicht schlecht: Alles glänzte „pico bello“! Der Fußboden war nicht nur von allem „Müll“ befreit, er schien sogar frisch gewischt. Selbst ein bunter Strauß Blumen stand in der Vase auf dem Tisch und eine Schachtel Pralinen lag auf dem frisch bezogenen Bett. Alles war perfekt! 

„Das wäre aber doch nicht nötig gewesen, Angie“, sagte die geschmeichelte Oma. 

Angie war immer noch perplex. Sie konnte nicht antworten, errötete aber leicht. Es war die Aufregung, die sie wärmte. Sie war sicher, dass weder ihre Mutter noch irgendwelche „Heinzelmännchen“ oder sonst wer für die Sauberkeit und Ordnung verantwortlich waren. Das ging eindeutig auf das Konto von Matthias. Jetzt hatte auch die Oma die geröteten Wangen ihrer Enkelin bemerkt und interpretierte diese auf ihre Art.

„Komm mal her mein Liebling. Das hast du ganz toll gemacht. Deine Mutter kann wirklich sehr stolz auf dich sein. Wo ist sie übrigens?“

„Mami ist unten im Atelier. Ich sag ihr schnell Bescheid, dann kommt sie bestimmt gleich rauf.“

„Ach hat sie wieder was in Arbeit? Dann lassen wir beide  sie doch lieber erst einmal in Ruhe. Umso mehr Zeit haben wir füreinander.“ 

Sie ging zum Tisch und kramte in ihrer Tasche. Dann zog sie ein Geschenk hervor.

„Bitte schön! Das habe ich dir mitgebracht. Ich hoffe es ist das Richtige für dich.“

Sie blinzelte Angie vergnügt zu. 

„Los, pack schon aus. Ich will deine Augen sehen!“

Angie trat heran und betrachtete das Paket gründlich. 

„Was ist denn da drinnen, Oma?“

„Das musst du schon selbst herausfinden.“

Angie, die keine Schere hatte, riss das Geschenkpapier herunter. Das Paket enthielt zwei weitere Päckchen, die wiederum je für sich in buntem Papier eingepackt waren. Eins war schmal, klein und rechteckig, das andere größer, breiter und ebenfalls rechteckig. 

Angie öffnete zuerst das kleine Geschenk. Es enthielt ein kleines Schreib-Set, bestehend aus einem wertvollen Füller und einem kaum weniger wertvollen Kugelschreiber. Beide mussten ein Vermögen gekostet haben. Im andern Paket war Briefpapier. Sowohl die Umschläge als auch die einzelnen Bögen waren bereits mit Angies Namen und mit ihrer Adresse versehen.. 

Auch wenn Angie nicht wirklich ein solches Geschenk erwartet hatte, bedankte sie sich höflich bei ihrer Oma und sie versicherte ihr, von nun an sehr viel häufiger und regelmäßiger zu schreiben als bisher. Frau Faust senior lachte beglückt und versprach, ihre Enkelin beim Wort zu nehmen.

Dann kam Angies Mama, um ihre Mutter zu begrüßen. Kaum war sie im Gästezimmer, glaubte auch sie, ihren Augen nicht trauen zu können. Nein, so ordentlich hatte sie es nicht von ihrer Tochter erwartet.    Angie wandte sich verlegen von ihrer Mutter weg, hin zu den neuen Geschenken. Die beiden Frauen begrüßten sich herzlich. Das war der geeignete Augenblick, um aus dem Zimmer zu entwischen.

Angie floh in ihr Zimmer. Nachdem was heute schon alles passiert war, brauchte sie dringend ein paar Minuten Ruhe. Sie musste jetzt einfach ein bisschen  allein sein. Zuviel schwirrte in ihrem Kopf herum. Das  musste erst einmal verarbeitet werden. Da kam der freie Schultag gerade recht. Angie schmiss sich aufs Bett, dass es quietschte.

Es war mal wieder ganz anders gekommen, als sie heute morgen noch gedacht hatte. Der Unterricht mit Matthias war nicht, wie sie erwartet hatte, lustig gewesen. Eher eine Katastrophe! Aber der „Unterricht“ von Matthias – als die Welt still stand – der war spannend gewesen. Angie hatte noch nie vorher von Gleichnissen gehört. Jetzt brannte sie geradezu darauf, eines kennen zu lernen. Ob sie es auflösen könnte? 

Hoffentlich würde Matthias ihr bald eins erzählen.

Auch die Ankunft von Oma war unerwartet gekommen. Irgendwie war natürlich Matthias dafür verantwortlich gewesen, aber irgendwie doch auch wieder nicht. Denn Oma musste doch sowieso nach Würzburg kommen, um ihre Klausur zu schreiben. Angie drehte sich auf die Seite. Das war alles geheimnisvoll. So geheimnisvoll, dass es im  Bauch kitzelte.

Jetzt fiel ihr Blick auf Omas Geschenk. So richtig begeistert war sie nicht. Briefpapier! War sie nicht aus dem Alter heraus? Aber der Füller sah nett aus!  

Angie streckte sich. Sie konnte ihn vom Bett aus  gerade so erreichen. Sie  betrachtete ihn nun näher. Jetzt erst entdeckte sie, dass ihr Monogramm auf dem Bügel eingraviert war: A.F.  Sie malte ein paar Kreise und Buchstaben in die Luft. Der Füller lag wunderbar in der Hand. Sie stand aus dem Bett auf und ging hinüber zum Schreibtisch. Dort zog Angie ein Blatt Papier zwischen den Umschlägen des neuen Briefsets hervor und machte eine Schreibprobe. Das Schreibgefühl war weich und geschmeidig. 

Prima, dachte Angie, der schreibt ja fast von alleine. 

Und da passierte es: Der Füller schrieb tatsächlich von alleine! 

Er hatte sich mit einem sanften Ruck aus ihrer Hand befreit und schrieb nun hastig auf das neue Briefpapier. Gebannt schaute Angie, wie sich das Blatt Zeile um Zeile füllte. Gespannt las sie mit:

Liebe Angie,

du wolltest doch das Gleichnis kennen lernen. Hier schreibe ich es dir, wie ich es in meinem Evangelium niedergeschrieben habe:

Das Unkraut im Weizen

Mit der neuen Welt ist es wie mit dem Mann, der guten Samen auf das Feld gesät hatte: Eines Nachts, als alles schlief, kam sein Feind, säte Unkraut zwischen den Weizen und verschwand. Als nun der Weizen wuchs und Ähren ansetzte, schoss  auch das Unkraut auf. 

Da kamen die Arbeiter zum Gutsherren und fragten: „Herr, du hast doch guten Samen auf deinem Acker gesät, woher kommt das ganze Unkraut?“

Der Gutsherr antwortete ihnen: „Das muss einer getan haben, der mir schaden will.“

Die Arbeiter fragten: „Sollen wir hingehen und das Unkraut rausreißen?“

„Nein“, sagte der Gutsherr, „sonst könntet ihr aus Versehen den Weizen mit ausreißen. Lasst beides bis zur Ernte wachsen. Wenn es soweit ist, will ich den Erntearbeitern sagen:

Sammelt zuerst das Unkraut ein und bündelt es, damit es verbrannt wird. Aber den Weizen, den schafft in meine Scheune.“

Nachdem der Füller den letzten Satz geschrieben hatte, „wanderte“ er wieder in Angies Hand zurück und rührte sich nicht mehr.

Angie war wieder hellwach und ganz bei der Sache. Dass gerade wieder etwas sehr Besonderes stattgefunden hatte, registrierte sie gar nicht mehr. Das war eben Matthias, ihr Engel. Ihm traute sie mittlerweile alles zu.

Und wie sehr hatte sie sich auf das Gleichnis gefreut! 

Ungeduldig las sie das Gleichnis noch mal. Wie sollte  sie vorgehen? 

Sie entschied, wie bei einer Gleichung vorzugehen und schrieb unter den Brief eine Liste:

Neue Welt =

Mann, der sät ( Gutsherr) =

Feind =

Weizen =

Feld =

Unkraut =

Arbeiter=

Ernte =

Scheune = 

Zufrieden lehnte sie sich zurück. Ja, so konnte die Aufgabe gestellt werden. Wenn sie das, was „links vom Gleichheitszeichen“ übersetzen könnte und es „rechts vom Gleichheitszeichen“ hinschreiben könnte, dann hatte sie die Gleichung gelöst und das Rätsel das dahinter steckte. 

Aber wie um Himmelswillen sollte sie die Gleichung auflösen? 

Schon bald „rauchte“ ihr Kopf. So schwierig hatte sie es sich nicht vorgestellt. Was hatte das Leben auf dem Bauernhof mit ihrer Lebenswelt zu tun? Warum konnte Matthias nicht ein Beispiel aus ihrem Leben wählen?

Das größte Rätsel lag schon im ersten Satz: 

Was war mit der „Neuen Welt“ gemeint? 

Ein „Mann, der sät“ ist ein Bauer. Das war ihr klar, auch wenn sie ihr Leben lang in der Stadt gewohnt hatte. Aber was hatte der Bauer mit der „Guten Nachricht“ von Matthias zu tun? Angie ließ die beiden ersten Rätsel erst einmal offen und kümmerte sich um den „Feind“. 

Den Feind des Bauern kannte sie  nicht. Da war sie sich sicher. Ja, wenn da ein Fuchs gestanden hätte, dann wäre der Feind sicherlich der Jäger. Aber der Feind des Bauern? Da kam höchsten ein anderer Bauer, ein „Konkurrent“ des ersten Bauern, in Frage, der wahrscheinlich auf den Acker des ersten Bauern neidisch war. 

Und was könnte der „Feind“ als „Unkraut“ aussäen? Was sollte das „Unkraut“ und was sollte der „Weizen“ bedeuten? 

Sie schaute ratlos und Hilfe erhoffend auf den Stift in ihren Händen. Vielleicht würde er ihr ja die Lösung verraten? Aber der Stift blieb reglos in ihrer Hand, so als wäre der eigenwillige Schreibtanz von vorhin nie geschehen. Angie stöhnte leicht auf. Also musste sie weiter allein versuchen, das Gleichnis zu knacken.

Die Arbeiter des Bauern heißen „Knechte“, dass hatte sie einmal so gelernt. Aber im Grunde kannte sie keinen einzigen Knecht. War das nicht ein ganz alter Ausdruck, den heute kein Mensch mehr gebrauchte? 

„Ernte“ und „Scheune“ waren wieder einfacherer Begriffe, auch wenn sie wieder nicht in der Lage war, deren gleichnishafte Bedeutung aufzulösen. Aber dass die Ernte das Wichtigste für einen Bauern war, und dass die Ernte rechtzeitig in die Scheune eingefahren werden musste, das wusste Angie auch als Stadtmensch.

Sie blickte enttäuscht auf ihre Gleichungen. So motiviert sie an die ersehnte Aufgabe heran gegangen war, so enttäuscht war sie jetzt. Keine einzige Gleichung hatte sie lösen können.  Die Leere auf dem Papier tat ihrem Magen richtig weh. 

Auch das erinnerte sie an ungelöste Gleichungen in der Schule…

„Angie komm runter in die Küche!“, hörte sie plötzlich ihre Mutter rufen. „Das Essen ist fertig.“

Das hörte sich zumindest gut für den Magen an! Angie ließ ihre Schreibutensilien liegen und lief zur Tür. Gleich nach dem Essen würde sie weitermachen. Vielleicht konnte sie ja Anna anrufen. Die kann bestimmt weiterhelfen, dachte Angie. Oder aber Matthias tauchte auf. Während sie die Treppe hinunter zur Küche rannte, roch sie schon  den verführerischen Duft von Pizza. 

„Wie hast du das denn so schnell hingezaubert?“ , fragte Angie erstaunt, als sie in die Küche bog. 

„Setzt dich, Liebling,“ , antwortete Frau Faust. „Ich habe gar nicht gezaubert. Aber deine Oma hat uns ein Pizzataxi bestellt.“ 

Angies staunender Gesichtsausdruck löste  sich schlagartig in ein dankbares Lachen in Richtung der Großmutter.

„Danke Omi! Das brauche ich jetzt auch. Mein Magen hängt schon in den Kniekehlen und trägt Kniestrümpfe…“ 

Die alte Dame sah verständnislos zuerst Angie, dann ihre Tochter an. 

„Also Angie, manchmal verstehe ich deine Sprache nicht. Wer soll das denn verstehen? Margot, kannst du mir das übersetzen?“

Aber auch Angies Mutter winkte ab. 

„Also wirklich, Angie. Du sprichst in Rätseln. Wer soll das denn verstehen?“

Matthias, dachte Angie und nahm sich das größte Stück.