Gottes kleine Faust – Kapitel 21: Rätsel

Nach dem Essen ging Angie sofort wieder in ihr Zimmer. Das Telefon nahm sie mit. Sie wählte Annas Nummer. Aber niemand hob ab. Wahrscheinlich war sie noch nicht zu Hause. Angie überlegte, ob sie es schon auf Annas Handy probieren konnte. Sie entschied sich für eine SMS:
„Ruf mich an oder komm rüber. Wir müssen ein Rätsel lösen!“

Dann nahm sie sich wieder ihre Gleichungen vor. Aber sie kam wieder kein Schritt weiter. Sie wollte schon verzweifelt aufgeben, da klingelte es an der Haustür. Gespannt lief sie zum Fenster. Super, dachte sie und sprang sofort zur Tür und die Treppe hinunter. Kaum hatte sie geöffnet, da grinste sie auch schon ihre beste Freundin an:
„Ich bin sofort gekommen. Schneller ging es beim besten Willen nicht.“
„Klasse. Komm mit nach oben. Ich muss dir was zeigen.“

Sie liefen so schnell sie konnten nach oben. Angie zog einen zweiten Stuhl vor den Schreib-tisch und zeigte ihr Aufgabenblatt Anna. Die schaute abwechselnd auf das Papier und dann zu Angie.
„Ich versteh nur Bahnhof!“, sagte sie nach eine Weile. „ Erklär mir erst mal, was überhaupt los ist.“

Angie berichtete von ihrem Vormittag. Sie erzählte vom Armdrücken und vom Erdkundetest und sie erzählte vom Stillstand der Schule. Anna hörte zu und sagte nichts. Manchmal schüttelte sie ungläubig den Kopf, manchmal gluckste sie vor Lachen und einmal schlug sie sich vor Begeisterung aufs Knie. Endlich war sie in alles eingewiesen.

„Wir hatten schon Gleichnisse in der Schule. Aber Jesus hat so viele Gleichnisse erzählt. An „Das Gleichnis vom Unkraut im Weizen“ kann ich mich gar nicht erinnern“.
Anna hob mit einer Geste der Ratlosigkeit beide Hände in die Luft.
„Aber ich kann mich an ein ähnliches Gleichnis erinnern: „Das Gleichnis vom Sämann“.
Angie blickte aufmerksam auf: „Erzähl!“
Anna antwortete unsicher:
„Ich weiß nicht, ob ich es noch zusammen bekomme, aber ich kann es ja versuchen.“
„Bitte. Und streng dich an!“ bat Angie.
Anna kratzte sich kurz an der Stirn und begann.
„Ein Bauer ging aufs Feld und säte aus. Ein Teil des Samens aber landete auf den Weg, wo die Vögel es sofort wegpickten. Manche Samenkörner landeten auf hartem felsigen Untergrund, wo nur wenig gute Ede war und andere Samenkörner fielen in Dornengestrüpp. Dort konnte der Samen nicht wirklich aufgehen. Aber das Meiste an Samen fiel in die gute Ackererde, wo er sehr viel Frucht brachte.“

Anna stoppte die Erzählung und sah erwartungsvoll Angie an. Aber sie sah in zwei völlig unverständige Augen.
„Und weiter?“
„Wie, weiter? Das war es schon!“
Angie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe gar nichts.“
Anna lachte: „Gut, dass du mich hast. Ich erkläre es dir. Also: Der Bauer ist Jesus.“
„Wieso Jesus?“, unterbrach Angie.

 

„Naja, das ist so: So wie ein Bauer guten Samen ausstreut, so „streut“ Jesus mit seinen Worten und Taten guten Samen aus. Das, was er spricht und tut, hören beziehungsweise lesen die Menschen und das geht dann in uns auf, weil wir es verstehen und begreifen.“
Sie sah in Angies fragende Augen.
„Oder auch nicht, wie bei dir. Also entweder wir verstehen es, dann schlägt der Samen kleine Wurzelchen in uns. Es „wächst“ und deshalb entsteht etwas ähnliches wie eine Frucht. Oder aber wir verstehen es nicht – was bei dir der Fall ist – dann „wächst“ nichts in uns. Dann ist das so, als ob guter Samen auf felsigen Boden fällt. Wir hören, aber die „Worte“ kommen nicht wirklich an. Der „Samen“ geht nicht auf, er kann keine Frucht bringen.“

„Ist das kompliziert!“, Angie kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Aber ich glaube ich kapiere es langsam. Auch Worte können wie Samen sein. Wenn ich etwas verstehe und die Worte nicht vergesse und sie sogar in mir „wachsen“ und „Frucht“ bringen, dann kann ich mein ganzes Leben etwas davon haben. Wie mit „unregelmäßigen Verben“ zum Beispiel“
Anna verdrehte die Augen. „Mensch du hast ja Beispiele! Aber im Prinzip hast du es jetzt verstanden.“ , lobte Anna.

„Und was ist mit dem Samen, der im Dornengestrüpp landet?
„Denk doch mal nach: Je freier sich eine Pflanze ausbreiten kann, umso besser wächst sie. Und Samen, der unter einem Gestrüpp oder Busch wächst… na überleg mal!“
Anna sah auffordernd Angie an.
„Da wächst die Pflanze zuerst ein bisschen, dann aber geht sie wieder ein, weil sie sich gegen das Gestrüpp nicht durchsetzen kann.“, versuchte Angie eine Antwort..
„Richtig!“ sagte Anna und nickte.
„Und was heißt das übertragen auf die Worte, die Jesus spricht?“
„Übertragen auf seine Worte heißt das, dass bei manchen Menschen seine Worte für einen Moment ganz gut im Herzen aufgehen, dass aber andererseits deren Herzen schon voll mit anderem „Müll“ oder „Gestrüpp“ ist. Der Samen bzw. seine Worte haben nicht wirklich eine Chance aufzugehen, solange der Platz nicht frei ist vom Gestrüpp.“

„Bingo! Jetzt verstehe ich, warum Matthias meinte, dass die Menschen früher gerne Rätsel hörten und dass sie nicht wegliefen, wenn Jesus in Gleichnissen redete. Das macht ja richtig Spaß! Auch wenn es schwer ist.“

Sie stand auf und lauschte an der offenen Tür. Alles war ruhig. Ihre Mutter war sicher wieder im Atelier verschwunden und Oma machte bestimmt einen Mittagsschlaf. Die Gelegenheit war günstig. Sie steppte fröhlich die Treppe hinunter in die Küche. Nach einer Weile kam sie mit einem Tablett zurück.
„Kleine Stärkung?“ fragte Angie und stellte das Tablett aufs Bett.
„Hm, lecker. Kekse, Kakao und Kuchen.“ , freute sich Anna. „Gott, geht es uns gut!“
Dann machten sie sich über die Sachen her und mampften um die Wette. Mittendrin stoppte Angie das Gelage.
„Komm, lass uns auch noch das andere Gleichnis versuchen.“
„Okay. Hol es rüber.“

Angie stand auf und legte das Briefpapier zwischen sich und Anna, so dass beide einen guten Blick darauf hatten. Dann lasen sie „Das Gleichnis vom Unkraut im Weizen“ noch einmal von Anfang bis Ende.

 

„Ob der „Sämann“ wieder Jesus ist?“ fragte Angie Anna, als sie fertig gelesen hatte.
„Bestimmt!“, antwortete Anna und beugte sich dichter über das Papier mit den Gleichungen. „Aber wer zum Teufel ist der „Feind“?
„Mensch, Anna!“, Angie war plötzlich ganz aufgeregt. „Das ist es! Du hast es heraus-gefunden!“
„Was habe ich?“ Anna verstand nicht. „Ich habe doch nur gefragt, wer der „Feind“ ist.“
„Ja, aber vorher. Weißt du nicht mehr, was du gesagt hast?“
Anna zuckte mit den Achseln.
„Du hast gesagt: „Wer zum Teufel!“. Ich glaube, der „Teufel“ ist die Lösung!“
„Wieso?“ Anna schien immer noch nicht klüger.
„Pass auf: Jesus ist doch immer der „Gute“. Mit seinen Worten und Taten streut er „guten Samen“ aus. Und der „Feind“ muss dann zwangsläufig das Gegenteil sein: das Böse. Und das Böse wird doch als Person immer Teufel, Satan oder Luzifer genannt. Das weißt du doch!“

Anna war sprachlos. Darauf hätte sie doch auch kommen müssen.
„Ich glaube du hast recht!“, rief sie jetzt begeistert. Sie schaute noch einmal in das Gleichnis und dachte laut:
„Und das Unkraut zwischen dem guten Weizen, dass ist das, was den Weizen hindert, super und ordentlich und überhaupt richtig zu wachsen. Ich meine“, sie war jetzt ganz aufgeregt und plapperte, wie es ihr spontan in den Sinn kam, „wenn der Teufel das „sät“, dann muss das doch das „Gegenteil“ der Worte Jesu sein…, oder nicht?“
Angie überlegte und nickte:
„Das muss richtig sein. So wie man mit „guten Worten und Taten“ Gutes pflanzen und an-fangen lassen kann, so können auch schlechte Reden und Taten das Böse entstehen lassen.“

Beide Freundinnen schauten immer wieder abwechselnd auf das Aufgabenpapier und dann wieder in das Gleichnis. Ihre Backen glühten und sie kamen sich vor, wie Detektive, die einer kniffligen Geheimschrift auf der Spur waren. Sie fühlten, dass sie den „Code“ knacken konnten und das spornte sie noch einmal mehr an.

„Dann ist die Sache mit dem „Feld“ auch nicht mehr schwer.“ , sagte Anna
„Glaube ich auch!“, bestätigte Angie. „Wenn der Samen auf die Erde gestreut wird, muss diese „Erde“, die „Welt“ selbst sein.“
„Treffer und versenkt“, stimmte Anna zu. „Das glaube ich auch. Jesus versucht, guten Weizen auf die Welt zu bringen, aber der Teufel versucht, genau das zu verhindern.“

„Und Gott sei Dank hat Jesus ja noch die „Arbeiter“, die ihm helfen, die „Ernte“ einzubringen.“
„Und wer sind die?“
Angie kam ein Gedanke, aber sie traute sich nicht, ihn laut auszusprechen. Anna jedoch bemerkte als beste Freundin, dass Angie etwas herausgefunden hatte und es nur nicht sagen wollte.
„Los sag schon. Du hast doch eine Ahnung, wer die Arbeiter sind, die sich um die Ernte kümmern sollen.“
Angie zögerte. Sollte sie es wirklich Anna sagen? Sie fürchtete erneut, ausgelacht zu werden. Dann aber fasste sie Mut:
„Es sind die Engel Gottes, die helfen, dass das Böse keine Chance hat. Sie sind bereit, wann immer der Gutsherr es will, das Böse zu bekämpfen.“

 

 

Anna wusste, warum Angie gestockt hatte. Wenn Matthias ein Engel war und wenn auch Angie ein „Engel“ sein sollte, dann hatte das Konsequenzen. Dann musste sie bereit sein, es mit dem Böse aufzunehmen. Sie nahm Angie in den Arm und drückte sie an sich. Natürlich lachte sie Angie nicht aus. Aber sie wusste auch, dass ihre Freundin schon wieder Angst bekam.

„Aber es könnten auch Priester und Ordensleute und Missionare und „solche“ Leute sein, oder nicht?“
Anna schaute auf die Wirkung ihrer Worte.
„Das könnte doch auch möglich sein, oder?“

Angie sah Anna fest in die Augen. Dann wiederholte sie mit genauso fester Stimme:
„Es sind Engel. Ich bin mir ganz sicher.“

Anna stockte jetzt auch der Atem. Auch sie beschäftigte ein Gedanke, den sie nicht rausrücken wollte. Dann aber fragte sie doch.
„Und bist du ein Engel?“

Angie sah Anna mit einem Blick an, der eine Frage an Anna stellte, und der gleichzeitig eine Antwort für Anna war.
„Ich weiß es nicht, Anna“, sagte Angie hilfesuchend.

Anna aber begriff in diesem Moment, dass Angie die Sache schon längst für sich entschieden hatte. Selbst wenn es Angie scheinbar noch nicht wusste. „Das ist wie beim Schwimmen“, dachte Anna: „Wenn Angie erst einmal auf der Stecke ist, dann gibt es auch kein zurück mehr. Dann zieht sie die Sache durch. Dann hat sie dafür trainiert und dann gibt es kein zurück!“
Aber hatte Angie für das „Engel-Sein“ trainiert? War sie wirklich gut genug vorbereitet? Oder war es der „Sprung ins kalte Wasser“?

Anna drückte Angie noch einmal fester und verscheuchte diese Fragen. Mit dem Blick auf das Gleichnis fragte sie dennoch weiter:
„Ein paar „Unbekannte“ haben wir noch. „Ernte“ und „Scheune“. Und noch die Gleichung am Anfang: die „Neue Welt“. Kriegen wir das raus?“

Jetzt sah auch Angie wieder auf die Briefbögen. Dann dachte sie flüsternd nach, so dass Anna mithören konnte:
„Mit der Ernte schließt sich der Kreis, der mit der Aussaat seinen Anfang nimmt. Das, was der Bauer mit dem Säen beginnt, endet nach der Ernte in der Scheune!“

„Aber nur der Weizen kommt in die Scheune, nicht das Unkraut!“, mischte sich Anna in das Flüstern Angies, nun, ebenfalls mit gedämpfter, leiser Flüsterstimme, ein. „Das Unkraut kommt weg und wird verbrannt,“
„Dann bleibt der Weizen beim Bauern, das Unkraut aber nicht.“

„Ob das was mit „Himmel“ und „Hölle“ zu tun hat?
„Keine Ahnung. Was meinst du damit?“

 

 

„Ist doch klar, was ich meine: Wenn der Weizen zum Gutsherr in die Scheune kommt und dort bleibt, ist das so, als ob die Menschen in den Himmel kommen und dort bleiben dürfen. Das Unkraut aber kommt weg und wird verbrannt.“
„Also wäre das Verbrennen des Unkrauts so etwas wie „Hölle“?
Was ist „Hölle“?

Anna dachte einen Moment nach.
„Wenn Himmel so etwas ist, wie in der Scheune des Gutsherrn sein, dann ist Himmel, in der Nähe Gottes oder in der Nähe Jesus zu sein. Und Hölle müsste dann eben genau das Gegenteil sein: nicht in der Nähe Gottes sein dürfen.“

Angie nickte und pfiff leise und anerkennend durch die Zähne: „Super Anna. So wird es bestimmt sein. „Himmel“ ist, bei Gott sein zu dürfen. „Hölle“ ist, nicht bei Gott sein zu dürfen. Und das tut weh, wie brennendes Feuer. So einfach ist das.“

Beide fühlten stolz, dass sie das Gleichnis soweit gelöst hatten.
„Bleibt nur noch eine Gleichung übrig,“ sagte Angie und sah fragend Anna an, „wer oder was ist die „Neue Welt“?“

Es entstand eine größere Pause.
„Ich habe keinen blassen Schimmer.“, beendete Anna das Nachdenken.
„Ich auch nicht.“, gestand Angie.

„Komm mach mal das Fenster auf. Ich finde, hier ist es ganz schön stickig geworden.“
Anna zog den Kragen ihres Sweatshirts weg vom Hals und fächerte sich Luft zu. Angie ging zum Fenster und öffnete es. Mit einem Mal entstand ein Durchzug, der nicht nur erfrischende und kühle Luft brachte. Die Gardine wurde in den Raum gesogen, die Tür zog mit einem Knall zu und mit einem noch größeren Bums fiel ein Buch aus dem Regal. Es blieb aufgeschlagen auf dem Boden liegen. Ein paar Seiten blätterten noch um, dann war es wieder so ruhig wie vorher.

Anna lief zum Buch, um es aufzuheben und in das Regal zurück zu stellen.
„Habe ich mich erschreckt“, lachte sie.
Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
„Was ist denn los?“, fragte Angie besorgt.
„Sieh mal: das Buch, das runtergefallen ist, ist die Bibel!

Jetzt kam auch Angie heran. Sie glaubte ihren Augen nicht: Aufgeschlagen war das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 13, Vers 36 – 43.
Beide lasen atemlos: „Jesus erklärt das Gleichnis vom Unkrau im Weizen“