Gottes kleine Faust – Kapitel 22: Besser als Chatten

Anna und Angie beugten sich über die aufgeschlagene Bibel und lasen gespannt, beinahe gierig, Wort für Wort. Immer wieder stockten sie im Lesen. Dann sahen sie sich an. Sie mussten einfach sehen, ob die andere das auch schon gelesen hatte. Einerseits freuten sie sich über die Richtigkeit ihrer Überlegungen. Es war ihnen tatsächlich gelungen, das Gleichnis vom „Unkraut im Weizen“ weitgehend richtig aufzulösen. Andererseits staunten sie über die scheinbare Brutalität am „Ende der Welt“.

„Brutal, findest du nicht?“ fragte Anna, nachdem sie fertig gelesen hatten.
„Wahnsinn. Das hätte ich nicht gedacht.“, antwortete jetzt auch Angie und sah Anna an. „Und hast du das über die Engel gelesen?“
Sie las noch mal, diesmal aber laut:
„…sie werden aus seinem Herrschaftsgebiet alle einsammeln, die Gott ungehorsam waren und auch andere zum Ungehorsam verleitet haben. Sie werden sie in den glühenden Ofen werfen, wo sie heulen und mit den Zähnen knirschen.
Echt heftig, was?“

Angie stellte sich Menschen vor, die in glühenden Feueröfen wimmerten und in der Glut des Feuers hilflos weinten. Sie brannten, ohne zu verbrennen und hatten riesige Schmerzen. Dieses Bild war so eklig, dass sie sich angewidert schütteln musste. Dann aber hatte sie eine Idee. Sofort fragte sie Anna:
„Ist das „wortwörtlich“ zu verstehen oder ist das vielleicht wieder nur ein Gleichnis?“

Gespannt sah sie Anna an, die sich noch immer über das Buch beugte. Dann antwortete ihre Freundin:
„Ich glaube, das ist wieder wie ein Vergleich gemeint. Denn sieh mal, wie es weiter geht: „Dann werden alle, die Gott gehorcht haben, in der neuen Welt Gottes, ihres Vaters, so hell strahlen wie die Sonne.“ Hast du das gelesen? Wie soll denn ein Mensch wie eine Sonne strahlen?“
Angie überlegte kurz: „Naja, wenn ich zum Geburtstag etwas Tolles geschenkt bekomme, strahle ich wahrscheinlich schon, wie eine „Sonne“.
Jetzt grinste Anna. „Da siehst du: wieder ein Gleichnis.“

Dann zeigte sie wieder auf die Stelle mit dem Ofen:
„Ich glaube, dass der Ofen ein Bild ist für die Bösen, die in einer Art „Gefängnis“ landen. Klar wollen die wieder raus. Aber erst, wenn die Strafe abgesessen ist, dürfen sie wieder aus dem dunklen Loch heraus in die Sonne.“
„Ist das schon wieder ein „Gleichnis“?“
„Ich glaub schon.“, lachte Anna.

Sie sah kurz aus dem Fenster. Dann klopfte sie plötzlich Angie auf die Schulter:
„Haben wir das nicht gut gemacht? Also ich finde, wir waren Klasse!“
Angie lehnte sich entspannt zurück und antwortete:
„Du spinnst zwar, aber ich finde auch, dass wir die Lösung ziemlich gut herausgefunden haben.“

Alles war aber immer noch nicht gelöst.
„Meinst du, dass mit „dem Menschensohn“ Jesus gemeint ist?“, fragte sie Anna.
„Auf jeden Fall“, antwortete Anna sicher. „Jesus ist doch „Gottessohn“ und wird „Mensch“. Du kennst doch die Geschichte mit Weihnachten und so. Na jedenfalls ist „Menschensohn“ eine typische Bezeichnung für Jesus. Das haben wir in der Schule schon oft gehabt.“

Angie fragte weiter. „Und dann ist da doch noch die Sache mit der „Neuen Welt“. Hier steht schon wieder nur „Neue Welt“ Gottes, und dass man dort „wie eine Sonne strahlt“. Verstehst du das?“
„Nicht wirklich“, antwortete Angie nach kurzem Nachdenken. Dann aber hatte sie, wie sie fand, eine bessere Idee, als lange rumzuraten.
„Sag mal, wenn das, was wir gelesen haben, von Matthäus ist, dann muss Matthias uns doch alles erklären können, oder? Wollen wir ihn nicht anrufen?“

Angie stutzte. Anrufen war nicht möglich. Sie hatte weder eine Handy-Nummer noch eine Email-Adresse. Bisher hatten sie immer andere Wege der Verständigung benutzt.
„Gute Idee!“, lobte sie also Anna. „Aber das klappt nicht. Ich habe keine Ahnung, wie wir ihn erreichen können.“
Sie zuckte hilflos mit den Achseln.
„Schade.“ , meinte Anna. „Ich würde wirklich zu gerne Matthias sehen!“
Dabei nickte sie heftig mit dem Kopf, so als ob sie das Gesagte unterstreichen wollte. Es wurde ihrer Meinung nach höchste Zeit, dass sie den neuen Freund ihrer besten Freundin endlich kennen lernte. Und außerdem interessierte sie sich wirklich für die Auslegung des Gleichnisses, das sie fast vollständig gelöst hatten.

„Warte mal“ , sagte da plötzlich Angie.
Sie stand auf und ging quer durchs Zimmer zur Heizung hinüber.
„Was ist denn jetzt schon wieder los mit dir?“, wunderte sich Anna. „Ist dir auf einmal kalt, oder was? Ich finde, jetzt übertreibst du aber echt.“
„Aber ich mach doch gar nicht die Heizung an.“
Angie überlegte kurz, ob sie das Geheimversteck Anna offenbaren konnte. Aber dann entschied sie, dass das jetzt auch keine Rolle mehr spielte. In den letzten Tagen hatten sie bereits Grenzen überschritten, die jede Geheimhaltung unnötig machte. Anna beobachtete mit wachsender Neugier, wie sich Angie an der Unterseite der Heizung zu schaffen machte. Ihr Staunen war groß, als sie plötzlich sah, wie Angie ein kleines Buch aus der Klappe zog. Angie pustete kurz den Staub ab, dann kam sie wieder zu Anna zurück.

„Mein Tagebuch.“, sagte sie stolz. „Hier trage ich immer alles ein, was mir wichtig erscheint und…“, sie machte eine kleine Pause und lächelte vielsagend, „ und Matthias schreibt auch immer wieder gerne hinein.“
Anna zog die Stirn in Falten. „Matthias schreibt in dein Tagebuch?“
„Ja, das tut er“, lachte sie, „ aber nicht wie du denkst,“ fügte sie hinzu. „Immer wenn ich eine Nachricht von ihm erhalte, die geheim bleiben soll, finde ich sie in meinem Tagebuch.“
„Stark!“
Anna war platt. Auch wenn sie gelernt hatte, dass in den letzten Tagen vieles anderen Regeln gehorchte, als die „normale“ Wirklichkeit, war sie dennoch auch jetzt wieder völlig aus dem Häuschen.

„Wie macht der das? Das geht doch gar nicht. Zeig mal her!“
Sie riss Angie das Buch aus der Hand und blätterte wie wild darin herum.
„Hör auf. Lass das!“ Angie zog an ihrem Buch. „Gib es zurück. Das ist mein Tagebuch.“ Ärgerlich nahm sie es Anna wieder ab. Die schaute ganz geknickt.
„Ich zeig es dir ja schon,“ erklärte Angie der schmollenden Freundin, „aber du musst ja nicht gleich alle meine Geheimnisse lesen.“
„Tschuldigung“, grummelte Anna. Sie blieb verärgert, rückte aber wieder näher. Im Nu aber hatten beide den kleinen Zwist vergessen. Zu gespannt waren sie auf neue Nachrichten.
Gemeinsam steckten sie ihre Nasen in das Tagebuch.
Zu ihrer eigenen Überraschung aber waren die Eintragungen von Matthias nicht mehr zu finden!
„Ist doch nicht möglich!“, wunderte sich Angie.
Anna wusste nicht, ob sie triumphieren oder enttäuscht sein sollte. Dann schlug sie vor:
„Blätter doch noch einmal um.“
Angie blätterte auf die neue Seite und tatsächlich: Da stand eine neue Nachricht von Matthias:

Hallo Angi!,
Hallo Anna!

Das habt ihr wirklich gut gemacht! Möchtet ihr noch irgendetwas zum Gleichnis wissen?

Die beiden Freundinnen schauten sich an. Angie überlegte nicht lange und schrieb unter die Zeile von Matthias:
„Was ist mit der „Neuen Welt“ gemeint?“

Kaum war die Frage geschrieben, erschien wie von Zauberhand in der schön geschwungenen Handschrift von Matthias prompt die Antwort:

Die Botschaft von der „Neuen Welt“ ist die Kernnachricht, die wichtigste Nachricht von Jesus an seine Schüler und Zuhörer. Ihr beide würdet „Himmel“ sagen. Jesus aber spricht vom „Himmelreich“ oder „Reich Gottes“ oder eben, wie hier, von der „Neuen Welt“, die unsere Welt einmal ablösen wird.

Wieder sahen sich beide Freundinnen an. Diesmal aber nahm Anna den Füller in die Hand. Sie zögerte, ob sie es wagen konnte. Erst als Angie ihr aufmunternd zunickte, schrieb Anna:
„Wieso wird unsere Welt einmal abgelöst? Was meinst du damit?“

Gespannt warteten beide, ob Matthias auch diesmal antworten würde. Sie brauchten aber auch jetzt nicht lange zu warten. Sofort schrieb Matthias die Antwort:

Die Menschen zur Zeit Jesu lebten in der Erwartung, dass das Ende der Welt bald kommen werde. Dann würde eine Art Gericht gehalten werden. Die Menschen fragten sich, was sie noch vor dem Ende tun müssten, damit Gott es als Richter gut mit ihnen meinen werde.

 

„Gott ist also eine Art Richter?“ schrieb Anna mutig darunter.
Diesmal musste sie nicht erst Angie um Erlaubnis bitten. Matthias antwortete, als hätte er bereits die Frage erwartet:

Auch diese Aussage ist nur ein Gleichnis. Von alters her waren Könige die Richter. Also musste Gott, nach Vorstellung der Menschen, mindestens so groß und mächtig sein, wie ein König und Richter. Etwas anderes war für die Menschen gar nicht vorstellbar. Jesus überraschte die Menschen dann mit einem ganz eigenen und neuen Gleichnis: Gott ist wie ein „Vater“ von uns allen. Deswegen beginnt auch das Gebet, dass er seinen Schülern lehrt, mit den Worten „Vater unser im Himmel…“

Jetzt nahm Angie den Stift wieder aus Annas Hand:
„Ist das nicht ein ziemlicher Unterschied: „Richter“ und „König“ auf der einen Seite und „Vater“ auf der anderen Seite?“

Ja. Aber gerade das hat den Menschen damals gefallen. Denn ein Vater mag streng sein, aber ein guter Vater hat seine Kinder immer lieb, auch wenn sie manchmal etwas ausgefressen haben. Ein Vater, der das Gericht am Ende der Welt hält, vor dem muss man sich eigentlich nicht wirklich fürchten. Er bestraft vielleicht, aber als guter Vater wird er seine Kinder auch jetzt lieben, egal, was sie angestellt haben.

Anna war fasziniert von dieser Art Spiel. Sie begriff kaum, was vor sich ging, aber sie merkte, dass es etwas Großartiges war, was sich gerade abspielte. Niemals zuvor hatte sie Religion als so spannend empfunden. Noch einmal bat sie Angie um den Füller und schrieb:

„Und welche Rolle spielt Jesus am dem Tag des Gerichts?“

Sie war sich sicher, dass Matthias nun etwas länger brauchen würde. Aber sie hatte Unrecht:

Jesus versteht Gott immer als „Vater unser im Himmel“ und sich selbst als Bruder von jedem Menschen auf der Erde. Übrigens auch von dir und Angie. Für seine Geschwister tritt er jederzeit und immer ein. Jesus versteht sich als der gute Bruder, auf den man sich verlassen kann, so wie auch der „Vater unser“ sich auf ihn verlassen kann. Jesus geht schließlich in seiner Liebe zu seinen Geschwistern und zu seinem Vater so weit, dass er die Schuld aller Menschen – seinen Brüdern und Schwestern – auf sich nimmt.- Aber das erzähle ich euch ein andermal.

Tschüß
Matthias

Während Anna noch fasziniert auf den letzten Satz starrte, schrieb Angie, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt unter die letzte Eintragung von Matthias :

Bis bald!
Angie!

 

Sie klappte das Tagebuch zu. Dann sah sie ihre beste Freundin an:
„Toll, nicht?“
Ein bisschen Stolz schwang in der Frage mit.
„Einfach irre!“, antwortete Anna. „So einen „Chat“ habe ich noch nie erlebt.“

Sie konnte ihre Augen noch immer kaum vom Tagebuch lösen.
„Und weißt du, was das Tollste ist?“ fragte sie nun Angie. Doch ohne eine Antwort abzuwarten, schwatzte sie gleich aufgeregt weiter.
„Ich kann ruhig jedem davon erzählen: Es glaubt mir ja sowieso kein Mensch!“
Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: „Das ist so was von unglaublich, das ist…“, sie suchte nach einem passenden Wort, „ das ist superkallifragelistigexpialigetisch!“ Jetzt lachte sie laut los. Sie prustete richtig vor Lachen und bekam kaum noch Luft. Mit beiden Händen wischte sie sich die Tränen aus den Augen.

 

 

Angie hatte zwar etwas mitgelacht, war aber im Grunde still geblieben. Für sie war der Kontakt und die Gespräche mit Matthias anders. Sie waren so besonders, dass sie begannen, Teil von ihr zu werden. Sie spürte mehr und mehr, wie sie begriff, auch wenn sie noch nicht alles verstand. Aber sie erkannte doch, dass Matthias sie „trainierte“, sie ausbildete für eine Art Wettkampf oder eine Art Herausforderung.
Und diese Herausforderung würde eine Begegnung sein, bei der es nur auf sie ankommen würde. Eine Begegnung mit dem Bösen.
Das ahnte sie auf einmal deutlicher als zuvor. Doch merkwürdigerweise flößte dieser Gedanke ihr erstmalig keinen Schrecken mehr ein. Mehr und mehr fühlte sie sich gestärkt durch das, was Matthias ihr beibrachte und erzählte.

Anna hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Vor allem, weil Angie nicht mitgelacht hatte.
„Sei mir nicht böse, Angie!“, sagte jetzt Anna. „Aber das ist das Verrückteste, was mir jemals zusammen mit dir passiert ist.“
„Das kann schon sein“, antwortete Angie. „Irre ist das schon, aber vielleicht sind wir ja auch alle viel zu „normal“, um die Wirklichkeit um uns herum auch wirklich zu begreifen.“
Anna schaute ihre Freundin fragend an: „Wie meinst du das?“
„Vielleicht passieren um uns herum ja ständig so eine Art Wunder, ohne dass wir sie bemerken. Wir brauchen immer ein bisschen länger und meistens eine „Sondervorstellung“, sonst raffen wir gar nichts, verstehst du?“

Anna verstand noch immer nicht. Angie aber nickte mit dem Kopf, als stimme sie sich selbst zu, und dann ergänzte sie leise:
„Bei mir ist das zumindest bisher so gewesen.“

Einen Moment sagte niemand der beiden einen Satz. Dann aber riss sich Angie aus der Nachdenklichkeit heraus, wie man sich manchmal aus einem Traum befreien kann und lachte Anna offen ins Gesicht.
„Aber du hast Recht: Natürlich ist das „einfach irre“ und das Verrückteste, was wir zwei zusammen je erlebt haben!“