Gottes kleine Faust – Kapitel 23: Vater unser

Als Anna gegangen war, blieb eine fröhliche Angie zurück. Dieser „Ferien“-Tag tat ihr gut. Und von wegen Ferien! Sie hatte mehr gelernt, als an den meisten anderen Schultagen. Davon war sie fest überzeugt.

Ihre Mutter war noch immer in ihrer Werkstatt unten im Keller und auch von Oma war noch nichts zu hören. Entweder schlief sie tatsächlich immer noch, oder aber sie bereitete sich auf ihre Prüfung vor.
Angie genoss die Zeit, die sie für sich hatte, wie ein kostbares Geschenk. Im Grunde war ihr Leben durch die Schule und den Sport ziemlich hektisch geworden. Beinahe jede Stunde war verplant. Aber nicht heute! Bis zum Training am Abend dauerte es noch ein paar Stunden. Glücklich ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Das Tagebuch hatte sie mitgenommen. Sie wollte noch einmal lesen, was Matthias geantwortet hatte.

Matthias hatte vom „Himmel“ als der „Neuen Welt“ geschrieben. Das gefiel ihr. Manchmal träumte sie auch von einer anderen, besseren Welt. Die Welt, die sich dann immer vorstellte war einem „Himmel auf Erden“ sehr ähnlich. Über die Anwesenheit oder noch stärker: über die „Nähe Gottes“ hatte sie aber bislang noch nie nachgedacht.

Dass Jesus sich für sie einsetzt wie ein Bruder, gefiel ihr genauso. Gern hätte sie einen „großen Bruder“ gehabt. Man wusste ja nie, ob man nicht einmal Hilfe brauchte. Anna hatte einen älteren Bruder, aber der war meistens ziemlich blöd. Zumindest sagte das Anna über ihren Bruder.
Dennoch erinnerte sich Angie an eine Begebenheit, die ihr Anna aus der Schule erzählt hatte. Da war Alex dann doch auf dem Schulhof für sie eingetreten, als Carlo, der Idiot aus der Oberstufe, „Randale“ machen wollte.

Jetzt las sie nochmals, dass Jesus Gott als „Vater“ bezeichnete. Auch wenn es –ähnlich wie der „König“ und „Richter“ – nur ein Gleichnis sein sollte, gefiel ihr dieses Bild von Gott. Vor einem Richter hatte Angie irgendwie Angst. Vor ihrem Vater hatte sie nie Angst. Er konnte zwar ganz schön wütend werden, aber sie wusste immer, dass Papa sie wirklich lieb hatte. So schlimm konnte es gar nicht kommen!
Sie erinnerte sich noch ganz genau an den Moment, als ihre Eltern ihr gesagt hatten, dass sie sich trennen müssten, weil es nicht mehr miteinander ginge.
Da war ihr Vater noch einmal zu ihr gekommen und hatte sie in den Arm genommen und gesagt, dass er sich aber nie von Angie trennen werde. Das ginge gar nicht, hatte er gesagt. Mit ihr sei er „ein Fleisch und Blut“, hatte er gesagt und das könne man gar nicht trennen.
„Und Mama?“, hatte Angie weinend gefragt.
„Mit der bist du auch Fleisch und Blut, Angie“, hatte ihr Vater geantwortet. Aber er und die Mutter, die seien eben nicht schon immer ein Fleisch und Blut. Das hätten sie leider bitter feststellen müssen.
Angie hatte das lange nicht verstanden. Sie war ihr ganze Leben lang mit Mutter und Vater zusammen gewesen. Dass man das trennen konnte, verstand sie im Grunde bis heute nicht.

In einem aber hatten die Eltern Recht behalten. Angie blieb immer beider Kind. Sie blieb das Kind von ihrem Paps und ihrer Mutter. Und das gab ihr ein besonderes Gefühl der Sicherheit.

 

 

Natürlich wusste sie auch von anderen Vätern, die nicht gut zu ihren Kindern waren.
Kathies Vater war eines Tages von Zuhause verschwunden. Einmal war er einfach nicht mehr von der Arbeit nach Hause gekommen. Einfach im Stich gelassen. Von heute auf morgen. „Unvorstellbar“, hatte Angie immer gedacht. Ihr Vater würde das ganz bestimmt nie machen, davon war sie fest überzeugt.

Dann fiel ihr noch Haralds Vater ein.
Der trank viel zu viel Alkohol und manchmal schlug er Harald und auch die Mutter. Angie hatte einmal unfreiwillig ein Gespräch mit angehört. Da hatte Haralds Mutter Herrn Walke beim Elternsprechtag davon erzählt und Angie war an der noch offen stehenden Tür vorbei gekommen. Seit dem sah sie Harald mit anderen Augen. Der musste doch so stark sein, damit er sich besser wehren konnte.
Ihr Papa schlug nicht. Da war sie sehr froh drum. Und sie wusste, dass er es auch nie tun würde.

Angie drehte sich zur Seite und schaute wieder in ihr Tagebuch. Sie las von dem Gebet, das Jesus seinen Schülern beigebracht hatte: das „Vater unser“.
Sie überlegte. Ob sie es noch zusammen bekam?
Vor Jahren hatte sie es noch gekonnt, das wusste sie. Sie hatten es in der Schule aufgeschrieben und sie hatten es auswendig lernen müssen. Damals hatte sie eine eins bekommen. Wenn jetzt hin und wieder Schulgottesdienste waren, betete sie es in der großen Gruppe mit, ohne großartig darüber nachzudenken. Aber ob sie es allein zusammen bekam? Angie drehte sich auf den Rücken und konzentrierte sich:

„Vater unser im Himmel“, begann sie. Dann aber stockte sie.
Sollte sie die Hände falten?
Sie wälzte sich auf den Bauch. Aufgestützt auf die beiden Ellenbogen, faltete sie die Hände. Für einen Moment wartete sie ab, ob etwas passierte. Aber natürlich passierte nichts. Warum auch? Sie fühlte sich nicht „komisch“, obwohl sie so noch nie gebetet hatte. Irgendwie konnte sie sich so besser auf das Gebet konzentrieren. Wieder begann sie:
„Vater unser im Himmel…“.
Abermals brach sie ab.
Ihr fiel plötzlich ein, dass man beim Beten doch immer mit dem Kreuzzeichen begann. Also begann sie ein drittes Mal:
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Dabei führte sie den Zeigefinger von der Stirn zur Brust und dann zur linken und schließlich zur rechten Schulter. Ob Jesus auch schon ein Kreuzzeichen gemacht hatte? Darüber hatte sie noch nie etwas gehört. Das musste sie unbedingt Matthias fragen. Und auch, ob der „Heilige Geist“ ebenfalls eine „Person“ war, wie der Vater und der Sohn. Oder war das alles schon wieder ein „Gleichnis“?

Sie begann erneut von vorne: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name.“
Was bedeute das eigentlich?
Dass der Vater bereits in der „neuen Welt“, dem Himmel „lebte“, war ihr klar, aber was hieß „geheiligt werde dein Name“? Das war schon wieder eine Frage, die ihr Mathias beantworten musste!

„Dein Reich komme“.
Das machte Sinn! Wenn der „Himmel“ die „alte Welt“ ablösen sollte, dann war „je schneller, umso besser“ angesagt. „Um eine bessere Welt zu bitten, ist richtig“, dachte Angie.

 

„Dein Wille geschehe“.
Auch das war Angie klar. Der Wille Gottes musste doch „gut“ sein; sonst wäre es ja nicht Gottes guter Wille, sondern, der „böse“ Wille des „Feindes“, wie sie es im Gleichnis gelesen hatte.

„Wie im Himmel, so auf Erden“.
„Dass ist eine schöne Idee“, dachte Angie. Wenn der Wille Gottes endlich auch auf der Welt geschehen würde, dann wäre die Welt bestimmt sehr viel besser, als sie es heute war. Warum mussten nur so viele Menschen so schrecklich anders handeln? Ob das mit dem Bösen zu tun hatte?

Plötzlich kam ihr zum Bewusstsein, dass sie sehr intensiv über das nachdachte, was das Gebet enthielt. Das hatte sie noch nie gemacht. Schon oft hatte sie bei den verschiedenen Gottesdiensten und in der Schule das „Vater unser“ aufgesagt. Wirklich gebetet hatte sie es aber nie. Und dass sie jetzt Zeile für Zeile überlegte und bedachte, war ihr auch noch nie passiert. Ihr war nie bewusst gewesen, was sie sagte, wenn sie das „Vater unser“ sprach. Merkwürdig, dachte Angie.

Obwohl in ihr eine wohlige Müdigkeit aufstieg, setzte sie das Gebet fort:

„Unser tägliches Brot gib uns heute.“
Diesmal war die Unterbrechung länger. Sie dachte an die leckere Pizza vom Mittagessen und an die Kekse und den Kuchen mit Anna. Nur um das „tägliche Brot“ zu bitten, schien ihr reichlich wenig. „Aber vielleicht geht es ja erst einmal nur um das Notwendigste zum Leben“, überlegte sie. Und dabei dachte sie an die Fotos von Kindern, die sie in Erdkunde gesehen hatte. Sie wusste, dass es Zonen in Afrika oder in Indien gab, wo das „tägliche Brot“ sicher heiß ersehnt wurde, Tag für Tag…

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.
Das war wieder schwieriger. Manchmal hatte sie Schuld. Zum Beispiel, wenn sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt hatte, obwohl ihre Mutter sie immer wieder darum gebeten hatte. Manchmal hatte sie auch Schuld, wenn eine Note in der Schule schlecht ausfiel, weil sie nicht genügend gelernt hatte.
Aber wie war der zweite Teil des Satzes gemeint?
„Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern?“
Wem hatte denn sie etwas zu vergeben? Vielleicht Kathy! Die hatte sich schon viel zulange eine DVD geborgt. Ob das so gemeint war, dass, wenn sie verzeihen konnte, dann genauso der „Vater unser“ uns verzeihen würde? Dann hätte man eigentlich alles selber in der Hand. Man müsste nur den ersten Schritt tun. Sie überlegte noch ein Weilchen. Der Gedanke gefiel ihr. Auch wenn dabei ganz schön viel Überwindung gefordert wurde. Niklas zum Beispiel würde sie nie vergeben können, dass er sie damals im Trainingslager mit allen Klamotten ins Schwimmbecken geschubst hatte.

„Und führe uns nicht in Versuchung“.
„Versuchung“ war ein merkwürdiges Wort. Manchmal war sie in Versuchung, mehr zu naschen, als ihre Mutter es erlaubte. Aber wenn sie doch so süße Sachen im Wohnzimmerschrank versteckte! Der Wohnzimmerschrank allein war schon eine Sünde wert…

 

 

„Sondern erlöse uns von dem Bösen.“
Da war es wieder! Dieses schreckliche Wort, das so bedrohlich auf sie zu zugehen schien. Matthias hatte erklärt, dass das Böse eine Macht an sich sei, auch wenn Gott letztlich die Oberhand behalten würde, wenn die „Ernte“ in die „Scheune“ eingefahren werden würde. „Das Licht ist stärker, als der Schatten“, hatte Mattias gesagt.
Sie überlegte:
Wenn Licht auf Schatten traf, verschwand der Schatten und löste sich auf.
„Ich bitte um Licht“, fügte Angie dem „Vater unser“ hinzu, „ um ganz viel Licht!.
Ja, das ist gut“, dachte Angie… und schlief ein.

Sie träumte von Dunkelheit.
Irgendwo saß sie verloren in einem dunkle Raum. Jemand hatte sie entführt und gefesselt. „Licht! Licht! Wo ist Licht ?“, schrie sie ganz laut. Und als sie schon ganz heiser war und ihr die Stimme schon fast versagte, da öffnete sich eine Tür und helles, gleißendes Licht flutete den Raum. Und der Raum, der sie eben noch kalt und gehässig verschlucken wollte, schrie nun selbst laut auf und verlor sich im hellen Licht. In der Tür stand ein Mann, den Angie nicht kannte. Sie war sich sicher, dass sie ihn noch niemals zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Aber er lächelte ähnlich wie Matthias und seine Stimme sagte:
„Komm schon Schwesterchen. Ich bringe dich zu Papa.“
Kaum hatte sie die Stimme gehört, merkte Angie, wie sie sich ganz warm und ruhig und irgendwie „satt“ fühlte. Sie stand auf und ging dem Mann entgegen, von dem soviel Licht ausging. Sie fühlte, dass er sie aus der Dunkelheit retten konnte, wenn er sie an die Hand nahm. Angie gab ihm die Hand und….

„Komm wach auf Angie! Wir gehen jetzt zu Papa! Komm schon, Kleines. Papa wartet schon!“
Angie schlug die Augen auf. Oma saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand.
„Los zieh dich an!“, sagte sie noch einmal. „Du hast lange genug geschlafen. Wir wollen Papa besuchen. Er will mir noch ein Buch für meine Prüfung morgen ausleihen. Du willst doch bestimmt mitkommen, oder nicht?“

Angie starrte ihre Oma an. Sie konnte sie sehen, aber sie schien ihre Oma noch nicht erkennen zu können. Mühsam begriff sie die Wirklichkeit um sie herum. Sie musste eingeschlafen sein.
Sie hatte vom Dunkel und vom Licht geträumt und sie hatte gehofft, dass das Licht die Finsternis besiegte. Und dann war dieser Mann gekommen und hatte sie als „Schwester“ gerufen und ihre Hand genommen. Und als sie die Augen aufgemacht hatte, war doch nur Oma an ihrem Bett. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Oma,“, gähnte sie. „Was machst du denn hier?“
„Deine Tür stand einen Spalt offen und da bin ich herein gekommen. Ich habe dich schlafen gesehen und dich ganz behutsam geweckt. Das ist schon alles! Also wie ist es mit uns beiden? Kommst du mit zu Papa?“
„Na klar komm ich mit. Ich muss nur meinen Traum abschütteln.“
„Hast du schlecht geträumt, mein Liebes?“
„Eigentlich nicht,“, antwortete Angie, „aber wenn du einen Moment später ins Zimmer gekommen wärst, hätte ich vielleicht eine ganz besondere Entdeckung gemacht.“