Gottes kleine Faust – Kapitel 25: Vollgas

Herr Mertens lag schon längst nicht mehr im Bett. Er war sofort in seine sieben Sachen gesprungen und hatte das versprochene Buch für Angies Oma rausgesucht. Jetzt saß er vor dem Computer und suchte in seinen Dateien herum. Als Angie in das Arbeitszimmer ihres Vaters trat, winkte er sie sofort freundlich heran.
„Komm und sieh dir das mal an, Angie.“
Angie kam näher.
„Was ist das, Paps?“
Sie setzte sich auf das rechte Bein ihres Vaters und lehnte sich an seine Brust. Zusammen schauten sie in den Monitor.
„Das ist der Entwurf für meine kleine Praxis!“
„Eine kleine Praxis?“ fragte Angie, „Für dich? Warum das denn?“

„Ich habe mir Gedanken über meine Zukunft gemacht.“, antwortete ihr Vater. „Immer diese vielen Dienste im Krankenhaus, die Überstunden und die Nachtdienste. Das macht mich auf Dauer ganz schön kaputt. Du glaubst gar nicht, wie anstrengend das ist.“
Er versuchte ein Lächeln. Tatsächlich sah er aber müde aus, als er fortsetzte.
„Langsam komme ich in ein Alter, wo ich mir etwas überlegen muss, wenn ich selbst gesund bleiben möchte.“
Dann zeigte er auf den Grundriss einer Praxis auf dem Bildschirm.
„Und das, was du hier vor dir siehst, könnte meine Zukunft sein!“

Mit wenigen Mausklicks führte Herr Mertens seine Tochter durch die virtuellen Räume der geplanten Arztpraxis. Angie erkannte ein geräumiges Wartezimmer und mehrere Behandlungsräume. Auch eine kleine Küche konnte sie erkennen. Mit gespannter Miene wartete der Vater auf die Reaktion seiner Tochter.

Angie staunte nicht schlecht über den Plan ihres Vaters. Auf die Idee wäre sie nie gekommen: Papa in einer ganz normalen Praxis!
Abwechselnd starrte sie immer wieder staunend den Bildschirm und ihren Vater an.
„Du willst nicht mehr im Krankenhaus arbeiten?“, fragte sie.
„Nicht „wollen“ ist vielleicht der falsche Ausdruck. Aber ich denke, dass ich etwas anderes wagen sollte. Ich will mich selbständig machen und eine eigene Arztpraxis eröffnen. Weißt du, dann wäre ich mein eigener Chef!“
Er machte eine kleine Pause,
„Naja, Günther wird wahrscheinlich auch mitmachen. Dann sind wir immerhin schon zu zweit und wir können uns die hohen Kosten teilen, die am Anfang anfallen werden. Du weißt, Günther ist mein Freund. Das klappt schon! Wir helfen uns gegenseitig.- Und? Wie findest du die Idee?“

Angie war immer noch überrascht.
„Gefällt es dir denn nicht mehr im Krankenhaus? Ich dachte, du arbeitest da gerne? “
„Das tue ich ja auch. Aber ich werde auch nicht jünger und….“, er sah jetzt seine Tochter besonders liebevoll an, „ und du wirst älter. Ich möchte einfach mehr Zeit für dich haben! Mir passt es einfach nicht, dass ich andauernd im Krankenhaus stecke, während ich doch viel lieber mehr Zeit mit dir verbringen würde. In einer Arztpraxis hätte ich einen ebenso wichtigen Job wie im Krankenhaus, aber ich hätte auch einen viel regelmäßigeren Tagesablauf.- Sag schon! Was meinst du dazu?“

 

Angie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte.
Sie spürte, wie aufgeregt ihr Papa war, und dass es ihm sehr wichtig war. Natürlich wäre es viel toller, wenn Papa mehr Zeit für sie haben würde! Das hatte Angie sofort verstanden. Aber er hatte nicht von der Mutter gesprochen.
„Du machst das schon, Paps! Und ich habe dich so oder so lieb!“ Sie drückte ihn so zärtlich, wie sie nur konnte. Eine Weile hielten sie sich umarmt und Angie stellte sich vor, dass ihr Paps wieder nach Hause kommen und dort wie früher mit ihr und Mama zusammen leben würde. Das war es, was sie sich wünschte!

Plötzlich hörten sie wilde Schritte die Treppe hinauf kommen.

„Ojeh!“, fürchtete Angie besorgt, „Das ist Oma! Ich sollte dir Bescheid sagen, dass der Kaffee fertig ist. Das habe ich glatt vergessen. Jetzt gibt es Ärger, Paps!“
„Ich pass auf, dass sie dich nicht haut!“ lachte Herr Mertens und hielt beschützend die Arme um Angie geschlungen.

Die Schritte waren nun an der Tür angelangt.

„Kommt schnell!“ rief die Oma, als sie in das Zimmer hereinstürzte. Ihr Gesicht war voller Schrecken. Mehr noch: Es war panisch!

„Omi! Was ist denn los mit dir?“
Herr Mertens war aufgesprungen, so dass Angie beinahe frontal gegen den Tisch geprallt wäre. Geschickt rollte sie sich ab und blieb, als wollte sie Deckung suchen, liegen.

„Ich habe gerade Margot anrufen wollen“, begann die Oma atemlos und zeigte auf das Handy in ihrer rechten Hand, „weil es bei uns doch länger dauern wird und…“, sie schnappte nach Luft. Gleichzeitig schlug sie sich aufgeregt mit der Hand auf die Brust; dort wo das Herz saß. „Und Margot ging zuerst auch an den Apparat, aber dann…“
Angie und ihr Papa sahen sich fragend an. Warum erzählte die Oma nicht endlich was los ist?

„Was ist passiert, Omi?“ fragte schnell und doch mit ruhiger Stimme Angies Papa.
„Etwas ganz Schlimmes, Klaus! Es machte so ein dumpfes Geräusch und dann gab es so eine Art Explosion und dann schrie auf einmal Margot ganz laut auf. Als hätte sie ganz große Schmerzen.“
Sie schaute beide hilflos
„Und dann war es plötzlich ganz still!“

Sie schaute abwechselnd Angie und dann immer wieder ihren Schwiegersohn an.
„Ich habe gerufen und gerufen! Aber Margot hat nicht mehr geantwortet. Alles war ganz still!“
Und dann schrie die Oma los: „Schnell, Klaus! Ich habe solche Angst, dass was Schreckliches passiert ist! Los! Wir müssen sofort zurück nach Hause!“

Die alte Dame zerrte verzweifelt an ihrem Schwiegersohn. Sie zog ihn in Richtung Tür. Angie, die noch immer auf dem Teppich vor dem Schreibtisch lag, war wie gelähmt. In ihrem Kopf aber rannten ihre Gedanken wild durcheinander.
Was war mit ihrer Mama geschehen, dachte sie, warum hatte sie geschrien?
Ob sie überfallen worden war? Das konnte sich Angie absolut nicht vorstellen. Aber was sollte es sonst gewesen sein? Ein Unfall? Oma hatte von einer Explosion gesprochen…

Sie wollte aufstehen, aber sie schaffte es nicht. Die Nachricht hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen und es drückte sie noch immer wie Blei zu Boden.
Ihr Papa befreite sich aus dem Klammergriff der Großmutter und half Angie aufzustehen. Er führte seine Tochter zur Oma. Beide nahmen sich in die Arme und waren den Tränen nahe. Herr Mertens lief schnell zum Schrank.
„Den nehmen wir besser mit!“ rief er den beiden zu. Er schnappte sich seinen silbernen Arztkoffer und war schon wieder an der Tür.
„Wir fahren mit „Wolf“!“ befahl er. „Omi, Angie! Ihr zwei fahrt mit mir mit. Deinen Wagen holen wir später!“

Herr Mertens packte mit seiner freien Hand den Arm seiner Tochter, die ihrerseits noch immer die Großmuter festhielt. Gemeinsam rannten sie so schnell sie konnten die Treppe hinunter, an der Küche vorbei und zur Eingangstür hinaus. In der Einfahrt stand der alte Volvo. Angie stieg hinten ein und kuschelte sich in ihren alten Sitz.

„Schnallt euch an!“, befahl Herr Mertens professionell. „Es kann sein, dass wir etwas schneller fahren müssen, als uns die Polizei erlaubt. Aber es geht um einen Notfall und wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Er war nun auch ohne Kaffee hellwach. Wie so oft in der Klinik, wenn es schnell gehen musste und es um jede Sekunde ging, agierte Doktor Mertens absolut konzentriert. Kontrolliert und bestimmt waren alle seine Handlungen. Angie, die um ihre Mama Angst hatte wie noch nie, war froh, dass Papa da war. Er würde das Richtige tun! So schnell konnte er gar nicht fahren, dass ihre Angst die Sorge um die Mutter überstieg.

Dennoch dachte sie kurze Zeit später „Meine Güte!“, als ihr Vater durch die Stadt raste und eine Ampel nach der anderen bei „fast rot“ passierte.
„Klaus!“, warnte die Beifahrerin und streckte ihren rechten Fuß, als suchte sie die Bremse.
Bei der vierten Ampel aber musste er doch halten.

Plötzlich schrie Angie laut auf:
„Um Gottes Willen! Nun fahr schon!“

„Angie. Bitte bleib ruhig! Papa macht das schon richtig“, versuchte die Oma ihre Enkelin zu beruhigen. Aber Angie hörte sie nicht. Sie hatte sich selbst gehört! Mit Schrecken hörte sie den Nachklang ihres plötzlichen „Ausrasters“. „Um Gottes Willen“ hatte sie gerufen.

Sollte sie Gott „anrufen“? Sollte sie jetzt zu ihm beten? Was denn?

Sie hatte noch nie wirklich zu Gott gebetet. Jetzt aber schien es ihr, als ob sie ihm ganz viel sagen musste.

Nur fielen ihr keine Worte ein!

„Bitte, bitte! Bitte lass Mama nichts geschehen sein!“ schrie es in ihrem Kopf, auch wenn sie unfähig war, ihre Lippen zu bewegen. Sie war noch immer wie gelähmt. Gleichzeitig fuhren die Gedanken Karussell.
„Was ist passiert?“
Diese Frage dröhnte in ihrem Schädel. So laut, dass es weh tat. Noch nie hatte sie sich solche Sorgen um ihre Mutter gemacht, das wusste sie. Aber mehr wusste sie nicht.

Auf einmal bemerkte sie, dass sie ihre Hände zusammen gepresst hielt. Schneeweiß. Blutleer. Irgendwie sahen ihre Hände aus, als seien sie zum Gebet gefaltet. Sie schloss die Augen und ließ sich fallen. Still betete sie:

„Bitte, bitte, Vater unser im Himmel: Lass meiner Mama nichts geschehen sein!“

Während sie immer und immer wieder diese Bitte wiederholte, trieb ihr Vater den alten Volvo an wie ein Formel 1 Weltmeister. In jeder Kurve jaulte der Motor laut auf, so sehr beschleunigte Herr Mertens den Wagen immer wieder neu.
Oma Mertens klammerte sich mit einer Hand am Griff der Beifahrertür fest. Sie zitterte am ganzen Körper. Mit der anderen Hand umschloss sie die Handbremse. Doch sie wagte nicht, daran zu ziehen, oder Angies Papa zu bitten, langsamer zu fahren. Vielleicht würde es um jede Sekunde ankommen, das ahnte sie genau.

Als der „alte Wolf“ endlich vor der Haustür stand, schien es den dreien, als habe die Fahrt eine Ewigkeit gedauert, aber in Wirklichkeit waren nur ein paar Minuten vergangen. Sie sprangen aus dem Fahrzeug.
Angie hatte den Haustürschlüssel als erste in der Hand, aber sie war viel zu aufgeregt, um aufzuschließen. Sie schaffte es einfach nicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Immer wieder verkantete er sich auf halben Weg. Ihr Papa trat von hinten an sie heran und bat:
„Lass es mich versuchen“.
Und schon öffnete sich die Haustür.

„Mama?“, rief Angie so laut sie konnte. Aber niemand antwortete. Herr Mertens wandte sich sofort zur Kellertür, wo die Werkstatt lag. Angie und die Oma rannten hinterher.
Angies Angst war jetzt riesengroß. Richtig schlecht aber sah die Oma aus. Sie fürchtete um das Leben ihrer Tochter. Blasser als Oma Faust konnte man nicht aussehen.

„Margot! Margot?”, rief sie jetzt, aber ihrer Stimme fehlte die Kraft. Sie klang alt und verbraucht. So als ob sie gar nicht damit rechnete, dass sie gehört werde. Gemeinsam stürmten sie den Kellerflur entlang. Auf einmal drang ihnen ein stechender, beißender Geruch entgegen: Rauch!

Unter der Tür zur Werkstatt stieg schwarzer Nebel hervor und kroch den Gang entlang.

Herr Mertens riss die Tür auf und wich schnell zurück: Flammen loderten ihnen entgegen. Ein Schwall aus Feuer und Hitze traf sie und raubte ihnen fast den Atem. Der Brennofen stand offen, Keramikkrüge, Teller und Tassen lagen in Scherben davor und wurden verdeckt von einem leblosen Körper.

„Mama!“, schrie Angie. Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie fiel in Ohnmacht.