Gottes kleine Faust – Kapitel 27: Warten auf das Wunder

Die Sekunden verstrichen. Minuten vergingen, ohne dass die ersehnte Antwort erschien. Das Tagebuch blieb leer.
Weder Matthias, noch eine Nachricht von ihm tauchten auf. Irgendetwas Schlimmes musste geschehen sein. Aber was? Nicht nur der Mutter ging es schlecht, spürte Angie. Auch mit Matthias war etwas nicht in Ordnung.

Angie fröstelte es. Eine Gänsehaut zog sich über ihren Rücken hinab bis zu den Zehen. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie wickelte sich bis zum Kinn in die Decke. Dennoch blieb die Gänsehaut. Sogar die Zähne klapperten leise.
Dabei war die große Heizungsanlage im Keller seit letzter Woche wieder an. Das ganze Zimmer war im Grunde viel zu warm. Aber es war nicht zu warm, wenn man sich fürchtete, die Mutter zu verlieren. Und es war auch nicht zu warm, wenn der einzige Freund, der einem helfen konnte, verschwunden war.

Mit einem Mal wurde Angie aus ihren Gedanken gerissen. Hörte sie nicht den „alten Wolf“? Natürlich! Nur Papas alter Volvo klang so!
Erneut sprang Angie aus dem Bett, diesmal aber mit Decke. Papa war zurück. Wie eine Mumie in die Decke eingerollt, lief sie so gut es eben ging zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.
Sie sah die Oma zusammen mit ihrem Papa. Beide hielten sich fest, sagten aber kein Wort. Als sie Angie auf der Treppe sahen, ließen sie sich los. Papa öffnete die Arme und fing die weich gepolsterte Angie auf. Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht in seine starken Arme. Mit Mühe fing ihr Paps das „Paket“ und drückte es an sich, als wolle er es nie wieder los lassen.

„Wie geht es Mama?“, hauchte das Paket in seinen Armen.
Herr Mertens verringerte den Druck und hielt jetzt Angie beinahe wie ein Baby im Arm. Angie suchte seine Augen und entdeckte unbekannte Traurigkeit.
„Wir müssen jetzt abwarten und“, er unterbrach und zögerte mit dem Ende des Satzes.
Hilflos schaute er Oma Faust an und sagte:
„Wir müssen abwarten und beten. Ich fürchte, wir brauchen ein Wunder“.

Die Oma und Angie waren wie vom Donner gerührt. Beide schauten sich an. Angie zuckte unwillkürlich zurück. Oma sah verändert aus.
Die Augen der Großmutter waren von den vielen Tränen grau und wirkten seltsam leer gewaschen vom Weinen. Das kleine, blasse Gesicht schien um Jahre gealtert. Es wirkte nicht nur sehr ernst und verzweifelt, nie zuvor hatte sie ihre Oma so hart und bitter gesehen.

Doch jetzt zog ihr Papa wieder die Aufmerksamkeit auf sich, als er sagte:
„Mama schläft jetzt. Sie ist in ein künstliches Koma gelegt worden. Ihre Verletzungen sind so schwer, dass wir mehr als nur Glück brauchen. Der künstliche Schlaf soll helfen, Kräfte zu sparen.“
Er sah Angie an.
Die starrte ihn mit glasigen Augen an, als schaute sie durch ihn hindurch und sagte:

 

 

„Papa mach dir keine Sorgen. Ich weiß, dass alles gut werden wird. Das Wunder wird geschehen. Ich muss nur erst Mathias sprechen.“

Ihr Papa sah Angie verwirrt an. Was redete da seine Tochter? Hatte sein Mädchen den Verstand verloren. Warum redete sie von Wundern und wer war Matthias?
Herr Mertens fürchtete, dass Angie die Wirklichkeit verdrängte und umsonst auf ein Wunder hoffte. Zu oft hatte er als Arzt miterleben müssen, dass Wunder ausgeblieben waren. Als Arzt wusste er nur zu gut, dass der Kampf ums Überleben oft grausam endete.

Vorsichtig versuchte er, Angie auf die Möglichkeit des offenen Ausgangs vorzubereiten:
„Ach Angie. Ich wünsche es mir auch, das Wunder. Aber wir können nur hoffen, dass es geschieht. Nur hoffen können wir es, hörst du?“

„Papa, es wird gut gehen!“, hörte er wieder die Tochter antworten und es klang nach kindlicher Sturheit und blindem Trotz.
„Matthias ist mein Freund. Wenn er von Mamas Unfall erfährt, wird er sie wieder gesund machen. Ich habe schon in mein Tagebuch geschrieben. Er weiß bestimmt schon bescheid!“

Angies Augen leuchteten fiebrig und auf der Stirn und der Oberlippe glänzten kleine Schweißperlchen. Papa nickte Angie zu.
„Bestimmt mein Mädchen!“
Dann packte er Angie und trug sie vorsichtig wieder die Treppe hinauf. Dabei sagte er:
„Du versuchst jetzt zu schlafen, ja? Ich fahre zurück zur Klinik und gebe euch Nachricht, falls sich etwas Neues ergibt. Ist das Okay?“

Er küsste Angie auf die glänzende Stirn. „Oma bleibt hier bei dir. Ihr müsst euch gegenseitig helfen und unterstützen. Damit helfen wir Mama am meisten.“

Sie waren jetzt im Kinderzimmer angelangt. Vorsichtig legte Herr Mertens seine Tochter auf die Matratze. Dabei entdeckte er das Tagebuch, das aufgeschlagen auf dem Bett lag und auch die letzte Nachricht an den geheimnisvollen Matthias.
Er fühlte einen Stich in der Herzgegend. Seine Tochter hatte offenbar einen eingebildeten geheimen Freund, den sie um Hilfe bat, wenn sie nicht weiter wusste.
Wie einsam und allein musste sie sich also ohne Mutter und – er schluckte – ohne ihren Vater fühlen! Er streichelte Angie sanft über die Wangen.

„Ich habe dich lieb, Angie.“
„Und ich habe dich lieb, Papa.“
„Versuch jetzt zu schlafen, mein Liebes. Du brauchst morgen alle deine Kräfte. Ich rufe in der Schule an. Bleib zu Hause bei Oma. Ich melde mich, sobald ich kann und neue Nachrichten habe.“
„Ja Papa.“

Herr Mertens stand auf und ging zum Fenster, wo er die Vorhänge zusammen zog.
„Ich lass die Tür einen Spalt auf und das Licht im Flur brennen.“
Er kam zurück ans Bett und gab Angie den Gute-Nacht-Kuss, den sie sonst von Mama bekam.
„ Und sag Mama, dass ich sie ganz doll lieb habe!“, bat Angie.
„Das wird das Erste sein, was ich ihr sagen werde!“, versprach ihr Vater, „Nachting!“
„Nachting Paps!“

Herr Mertens zog die Tür bis auf einen winzigen Spalt zu und ging die Treppe herab. Angie hörte den schweren Gang. Sonst rannte auch er mit leichten Schritten die Stufen hinunter. Aber heute Nacht fiel nichts leicht.
Am Schwersten würde das Einschlafen fallen, dachte Angie. Doch während sie auf das vertraute Motorengeräusch vom „alten Wolf“ wartete, schlief sie doch mit einem Mal erschöpft ein.
Die Tablette der Ärztin entfaltete endlich ihre Wirkung.

Aber die Tablette bewahrte nicht vor bösen Träumen!
Während sich Angie unruhig auf ihrem Kissen hin und her wälzte, näherte sich ein Albtraum von der fiesesten Sorte! Sie träumte, dass der nächste Morgen begann, und dass die schlimmsten Vorstellungen Wirklichkeit würden.

Angie erwachte und die Sonne schien. Sie streckte und reckte sich. Tief und traumlos hatte sie geschlafen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits 10.00 Uhr war. Unmöglich, dachte sie. Aber dann fiel ihr wieder die Tablette von Cora ein. Was immer ihr Wirkstoff gewesen war, er hatte gut getan. Angie stand auf und wollte nach Oma sehen. Ob Papa schon aus der Klinik angerufen hatte? Vielleicht war er ja auch schon längst zu Hause?
Sie rannte zum Fenster und sah auf den Parkplatz vor dem Haus. Tatsächlich! Dort stand Papas Auto. Warum hatte er sie nicht geweckt? Paps wusste doch, dass sie unbedingt alles sofort wissen musste! War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Sie wusste es nicht. Also drehte sie sich blitzschnell um und schnappte sich ihre Anziehsachen.
Schnell entschied sie, dass die Sachen von gestern in die Schmutztonne zur Wäsche gehörten. Sie wollte frische Wäsche anziehen, so als ob sie an nichts von gestern erinnert werden wollte. Sie wollte das Gefühl von gestern wie eine zweite Haut abstreifen und neue Klamotten mit ihrem frischen Duft sollten dabei helfen. Angie entschied sich für den blauen Poncho-Pullover und ihre Lieblingsjeans. Sie hatte plötzlich gar keine Angst mehr vor der Spinne auf der Hose. Sie musste ein wenig lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie sie sich bei Anna vor der Spinne gefürchtet hatte. Das war irgendwie schon lange her und unwirklich.

Die Jeans fühlte sich klasse an! Sie saß eng und schmiegte sich ideal an ihre Beine. Wie eine zweite Haut saß sie. Mehr noch: wie eine Rüstung. Angie fühlte sich sicherer und geschützter als am Abend. Plötzlich erstarrte sie: Wo war die Spinne?
Die Spinne, die sonst immer wie ein Tattoo auf dem Oberschenkel saß und auf ihre Opfer lauerte… war weg! Angie kratzte sich am Ohr. Wie ging das? Hatte sie sich vergriffen? Nein, das war ohne Zweifel ihre Lieblingsjeans! Das Spinnennetz war ja noch da. Nur die Spinne fehlte!
Merkwürdig, dachte sie. Aber darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern. Sie musste endlich zu Papa.

So schnell wie sie nur konnte rannte sie die Treppe hinunter. Wie ein gehetztes Tier stürmte sie in die Küche.
„Und Papa?“, platzte sie herein. Doch auf den ersten Blick wusste sie Bescheid. Papa saß kreidebleich am Küchentisch, vor sich eine Tasse Kaffee und ein Knäckebrot mit nichts drauf. Nicht einmal mit Marmelade. Seine Augen waren gerötet, als hätte auch er geweint.
Er stand auf und breitete stillschweigend die Arme aus, wie er es gestern Abend gemacht hatte. Seine sonst große und stattlich wirkende Figur sah auf einmal viel kleiner und irgendwie „gebrochen“ aus. Das Schreckliche musste passiert sein.

 

„Ist sie….?“, Angie wagte nicht weiter zu sprechen. Aber sie rannte in seine Arme und drückte sich so fest sie nur konnte an ihn.
„Ja, Angie.“, flüsterte ihr Papa fast tonlos, „die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun.“ Und dann sackte ihr Papa zusammen und weinte und weinte und…

… da wachte Angie auf. Sie selbst weinte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie schrie, sie brüllte, sie wälzte sich wild herum. Mit einem lauten Schlag fiel sie aus dem Bett. Erschreckt kam sie zu sich und fand sich mitten in der Nacht auf dem Bettvorleger wieder.

Mama war tot. Mama war tot!- Um Himmels Willen Mama ist tot, schoss es ihr durch den Kopf.

Der Boden schwankte, sie fand keinen Halt. Ihr war, als ob sie keine Luft mehr bekäme und, als ob ihr Herz zu zerplatzen drohte. Mit jedem Pulsschlag schwoll es an und mit jedem Atemzug erhöhte sich ein nie gekannter Druck in ihr, der sich im nächsten Moment in einer fürchterlichen Explosion entladen würde. Sie wollte aufschreien, doch bevor ein Laut über ihre Lippen kam, wurde ihr schwarz vor Augen und sie klappte zusammen.