Gottes kleine Faust – Kapitel 29: Hoffnung

Angie lauschte.
Nichts war zu hören. Sie konnte es wagen.

Wenige Augenblicke später saß sie am Schreibtisch und schrieb einen Brief. Den Brief an Johannes. Sie schrieb:

Lieber Johannes!

Ich weiß nicht mehr weiter. Matthias ist verschwunden und Mama ist im Krankenhaus. Ich habe geträumt, dass Mama tot ist. Ich glaube, Matthias hat mir den Traum geschickt. Du hast mir gesagt, ich solle dir einmal schreiben und deswegen wende ich mich heute Nacht an dich. Beantworte mir eine Frage: Wenn du schreibst, „Gott ist Liebe“, wie kann er dann das ganze Elend zulassen? Das verstehe ich nicht.
Meine Oma hat mir die Geschichte von Lazarus und den beiden Schwestern erzählt, die du aufgeschrieben hast. Aber das kann ich nicht glauben. Und das reicht mir auch nicht. Es stirbt ja nicht nur Lazarus oder … meine Mama. Es sterben täglich Zehntausende und viele ganz schrecklich. Und so viele sind sterbenskrank oder schwer verletzt wie meine Mutter und überall auf der Welt ist Krieg. In allen Kontinenten. Wo ist da Gott? Warum sollte Gott da „Liebe“ sein?
Ich bin in meinem Zimmer und warte auf Antwort von dir.

Angie
Sie lehnte sich zurück und las den Brief noch einmal durch.
Ja, das war ein guter Brief, dachte sie. Aber wie sollte Johannes den Brief zugestellt bekommen?
Ratlos zog sie die Stirn in Falten. Sie konnte weder den Brief ausdrucken und in einen Umschlag stecken, noch konnte sie eine E-Mail an Johannes schicken. Wie sollte sie das Problem lösen?
Sie stand vom Schreibtisch auf und legte sich wieder ins Bett. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Es war schon fast zwei Uhr in der Nacht. So spät war sie noch nie auf gewesen. Aber was war in der letzten Woche schon normal gewesen… Angie fühlte sich kein bisschen müde. Ihre Augen wanderten weiter durchs Zimmer. Und plötzlich machte sie eine überraschende Entdeckung: da lag eine fremde Brille!

Angie wendete sie und betrachtete sie von allen Seiten. Sie war unauffällig und ohne besonderen Schmuck oder Verzierung. Aber eine feingliedrige Kette verband den einen Bügel mit dem anderen. Die Kette glitzerte silbern und verlockend.
Angie dachte nicht weiter nach und zog sich die Kette über den Kopf. Gespannt setzte sie die Brille auf die Nase. Und da passierte es: Sie sah die Frau am Fenster stehen!

Angie war so überrascht und erschreckt, dass sie voller Panik entsetzt die Brille mit beiden Händen herunter riss und aufsprang.
Doch … da war niemand mehr!

Angie war völlig baff. Wo war die Frau?
Sie hatte sie deutlich gesehen. Ganz bestimmt.
Eine Frau hatte dort am Fenster gestanden. Angie war sich ganz sicher.

Oder hatte sie doch nur geträumt?

Vorsichtig – Schritt für Schritt – näherte sich Angie dem Fenster. Zaghaft warf sie suchende Blicke nach rechts und links. Kein fremder Schatten. Niemand war da.
Sollte sie Oma rufen?
Jetzt war sie am Fenster. Verdammt noch mal, wo war die Frau?
Auch wenn es unmöglich schien, schaute Angie sicherheitshalber auch hinter die beiden Vorhänge. Sogar hinter der Heizung schaute sie nach. Nichts! Sie bückte sich und schaute unter das Bett. Wieder nichts.
Ihr Herz pochte nervös. Nur langsam beruhigte sie sich wieder. Die Angst um die Mutter, der Stress; irgendetwas musste das Trugbild verursacht haben. Trotzdem traute sich Angie noch nicht zurück ins Bett. Sie setzte sich erst einmal auf den kleinen Sessel.

Ein neuer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es gleich halb drei war. Was für eine Nacht. Hoffentlich wird es bald hell, dachte Angie, aber bis dahin würden noch Stunden vergehen. Sie bemerkte, dass sie noch immer die Brille als Kette um den Hals trug. Sie schaute sich noch einmal um… nein, da war wirklich niemand … und dann setzte sie die Brille ein zweites Mal auf.

Da passierte es: „Hallo Angie!“

Die Frau war wieder da!
Sie stand noch immer am Fenster und kam jetzt langsam auf Angie zu. Angie riss sich erneut die Brille von der Nase…. die Frau war wieder weg! Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Verschwunden. Unauffindbar von jetzt auf gleich.

Angie fürchtete sich.
Zitternd hielt sie die Brille in den Händen. Sie ahnte etwas: die Brille!

Mit der Brille hatte das Erscheinen der Frau zu tun, da war sie sich ganz sicher. Und obwohl sie sich fürchtete, spürte sie doch, dass sie es heraus finden musste.
Also streckte Angie – die Brille in den Händen – die Arme weit von sich und … lugte vorsichtig hindurch.
Unfassbar!
Durch die kleinen Gläser in den weit ausgestreckten Händen sah sie die Umrisse der Frau. Und noch merkwürdiger: Schaute Angie über den Brillenrand hinweg, … war da niemand mehr! Nur durch die Lesebrille war die unbekannte Person zu sehen. Die Frau stand jetzt direkt vor ihr und lächelte sie freundlich an!

„Komm schon, Angie!“ hörte sie die Frau sagen, und in ihrer Stimme schwang ein warmer sympathischer Klang. „Zieh die Brille wieder auf! Dann können wir uns besser unterhalten.“

Die Frau streckte ihr einladend ihre Arme entgegen und winkte freundlich. Angie konnte das nur sehr undeutlich sehen, denn noch immer streckte sie die Arme so weit aus, wie sie nur konnte.

Angie begriff überhaupt nichts. Sie verstand nur, dass alles sehr gespenstisch ablief. Für einen Moment überlegte Angie, ob sie jetzt die Oma wecken sollte. Aber dann entschied sie, es nicht zu tun. Die Frau war ja nicht wirklich. Sie erschien ja nur unwirklich durch die Brillengläser. Was konnte also schon passieren…

Mit weit aufgerissenen Augen verkürzte deshalb Angie langsam den Abstand zwischen den Augen und ihrer Brille. Immer näher kamen die Gläser in Richtung Nase und immer größer erschien die Frau. Als die Brille schließlich auf Angies Nase saß, stand die Frau in voller Lebensgröße vor ihr.
Sie sah sympathisch aus und jung. Noch keine 30 Jahre alt, schätzte Angie. Schwarze lange Haare fielen über den Rücken hinab. Sie war schlank und trug eine silberne Kette um den Hals mit einem Emblem, dass Angie nicht erkennen konnte. Ihr Kleid war leuchtend rot und schien fast flammenartig zu flackern. Eine solche Farbmischung hatte Angie noch nie gesehen. Aber sie faszinierte Angie unheimlich.
Die Schuhe waren ebenfalls rot und um das Fußgelenk des rechten Fußes blinkte noch einmal eine kleine silberne Kette.

Die Frau in Rot sagte noch einmal:
„Hallo Angie!“

„Wer sind sie“ fragte Angie und ihr Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete lauter sprechen zu müssen, damit die Frau sie überhaupt hören könnte. Die Frau lächelte freundlich und antwortete:

„Mein Name tut nichts zur Sache. Ich bin…“, sie zögerte einen Moment, als ob sie die Spannung steigern wollte, was ihr ohne Weiteres gelang, „ich bin so etwas, sagen wir einmal, wie deine gute Fee“.

Angie schluckte.
Wer war diese Frau? Sie waren doch nicht im Märchen!
Was wollte diese Frau von ihr? Der Tag und besonders diese Nacht waren schlimm genug. Da brauchte sie jetzt keine Elfen, Zauberer und Feen. Aus dem Alter war sie raus!
Dass das Traum und nicht Realität war, erkannte sie diesmal sofort. Das war sonnenklar. Doch sie wollte das Spielchen mitspielen.
Vor einer „Fee“ brauchte sie sich ganz bestimmt nicht zu fürchten!

„Wer sind sie?“ fragte Angie lauter als sie wollte.
„Ich bin so etwas wie deine „gute Fee“, Angie. Auch wenn es seltsam klingt und du lachst und du es sogar nur für einen Traum hälst.
Vergiss das mit dem Traum: ich bin gekommen, um dir zu helfen.“

Angie wurde schwindelig.
Das war eine Nummer zu dick. Viel zu dick.
Engel, Evangelisten, Apostel und nun noch die „gute Fee“?
Das war doch alles nur ein Traum. Das musste ein böser Traum sein.

„Nein Angie“, sagte die Frau in Rot. „Ich bin kein böser Traum. Ganz im Gegenteil. Wenn der böse Traum, den du heute erlebt hast, verschwinden soll, brauchst du mich. Ich kann dir helfen. Ich kann deiner Mutter helfen. Du musst es nur wollen und mich darum bitten!“

Was redete da die Frau ?
Wer war sie, woher kam sie? Und wie würde sie Angie helfen können?

Lohnte es sich zu hoffen oder war die „Fee“ nur ein Hirngespinst? Ein Wunschtraum, den sie im fieberhaften Wahn vor sich sah?
Angie fühlte sich einerseits in der Nähe dieser Frau überraschend sicher – was hatte sie schon zu verlieren? – andererseits witterte sie eine Falle.
Irgendwie kam ihr die Sache nicht geheuer vor.
Auch wenn die letzten Tage voll von wundersamen Erlebnissen und Begebenheiten gewesen waren, so war mit dem heutigen Nachmittag das Ende des Wunders gekommen.
Schluss mit wundervoll! Eindeutig.
Aber trotzdem: Wie gerne wäre sie jetzt mit ihrer Freundin Anna zusammen, dachte sie. Oder noch besser: mit Matthias.

„Matthias ist weit weg,“, sagte die Frau im roten Kleid, als könne auch sie Gedanken lesen. „Den brauchen wir nicht. Der hat es sich anders überlegt und vorgezogen zu verschwinden.“

Angie traute ihren Ohren nicht. Die Frau kannte Matthias!
Ob sie nicht nur eine „Fee“, sondern auch ein Engel war?

„Ja.“, antwortete die Frau sofort, als hätte Angie die Frage wirklich gestellt und sie nicht nur gedacht.
„In gewisser Weise bin auch ich ein Engel. Auch wenn das schon eine Weile her ist.“ , sagte sie träumerisch lachend, um dann mit einer besonderen Herzlichkeit zu fragen:
„Aber ein Engel steckt doch in jedem von uns, oder nicht Angie?“

Hoffnung keimte auf und das Gefühl tat gut!