Gottes kleine Faust – Kapitel 3: Die erste Nachricht

„Hast du ein bisschen Zeit?“ rief der neue Mitschüler über die Schulter hinweg, wartete aber im Grunde überhaupt nicht auf eine Antwort, so als ob er schon ganz genau wusste, dass Angie ihm folgen und sich neben ihn setzen würde. Als sie  zu ihm aufschloss, saß er schon auf der Lehne, die Füße auf der Sitzfläche. Angie konnte ihre Spannung kaum verbergen, denn Matthias schien mit einem Geheimnis rausrücken zu wollen. Sie setzte sich zu ihm auf die Lehne. Ob er eine dunkle Vergangenheit hatte? Wollte er etwas Schreckliches mit ihr teilen? Vielleicht saßen seine Eltern ja im Gefängnis. Vielleicht hatten aber auch irgendwelche Typen seine Eltern umgebracht und Matthias war jetzt Vollwaise? Angie ärgerte sich auf einmal doch, dass sie ihn vorhin einfach ausgefragt hatte. Doch es kam noch krasser. Die Bombe platzte:

„Angie, ich will dir etwas sagen“, begann Matthias und schaute sie ohne jede Unsicherheit direkt an. „Das mit meinen Eltern im Ausland habe ich mir nicht einfallen lassen. Diese Geschichte gehört zu meinem Auftrag. Ob sie mir gefällt oder nicht, bin ich nicht gefragt worden. Aber ich erfülle meinen Auftrag immer, weil ich gar nicht anders kann.“ 

Angie hörte mit staunendem Schrecken zu, unfähig zu irgendeiner äußeren Reaktion. Alles verlief so geradeaus, so gerade weg, als ob die Zeit für einen Moment still stand. Die Wirklichkeit schien  für einen Moment Pause zu haben. Auch war es ihr, als ob sie gar nicht mehr selbst auf dieser Bank am Fluss saß, sondern, als ob sie von einem Stück weiter oben die Szene verfolgte. Zeit war nicht mehr wichtig. Die Uhr hörte auf zu ticken, als Matthias fortfuhr:

„Ich bin ein Engel, Angie.- Und du bist auch ein Engel!- Ich bin der Bote, der dir die Nachricht überbringen soll. Diese Nachricht ist nur für dich bestimmt, weil sie die anderen nicht begreifen können. Auch du wirst sie nicht gleich begreifen können, aber du bist ausgewählt. Du sollst die Wahrheit erfahren und sie bezeugen und ich soll dir dabei helfen.“

Angie war … still. Sie war so was von baff, dass sie unbewegt wie eine aus Bronze gegossene Figur einfach nur so da saß. Angie schaute Matthias direkt ins Gesicht, so als ob er noch gar nicht angefangen hatte zu sprechen. Matthias aber blickte ruhig, seelenruhig und ebenso unbeweglich wie Angie selbst, frontal in ihre Augen.

Sie wollte sagen „Du spinnst ja!“ oder „Hast du ´ne Meise?“ Sie wollte aufstehen, ihr Fahrrad nehmen und nach Hause radeln. Veralbern konnte sie sich schließlich selbst. Aber ihr war einfach nicht  möglich wegzugehen. Und sie war nicht fähig, diesen Augen, die sie so merkwürdig ruhig anstrahlten, eine Antwort zu geben. 

Ihre Zunge war nicht gelähmt und auch ihr Sprachzentrum war nicht blockiert. Sie konnte Arme und Beine wie gewohnt bewegen,  aber sie war nicht in der Lage, irgendetwas zu antworten. Angie hatte – bei aller Unglaublichkeit – einfach ein absolut sicheres Gefühl, dass Matthias … nicht log!

Angie öffnete den Mund und … schloss ihn wieder. Sie folgte seinem Blick, der sich wieder dem Wasser zugewandt hatte. Wenn jetzt ein Wal oder sogar die Titanic vorbei geschwommen wären, hätte sie das auch nicht mehr umwerfen können. Sie schloss die Augen und hörte den Nachhall seiner Worte. 

Als sie die Augen wieder aufmachte, stand Matthias auf. Er legte seine Hand sanft auf ihre rechte Schulter und schaute ihr immer noch  mit den klaren, himmelblauen Augen offen ins Gesicht: 

„Wir reden morgen weiter, okay? Noch haben wir keinen Zeitdruck. Ich werde dir alles ganz genau erklären, wenn du besser vorbereitet bist. Du brauchst keine Angst zu haben. Engel gibt es wirklich. Sie sind so wirklich, wie wir beide.“ 

Dann stieg er wieder auf sein Rad. 

„Bis morgen, Angie! Ich bin da!“, rief Matthias und ließ sie doch zurück. Aber das alles schien sie kaum wahr zu nehmen. Ihr Blick starrte auf den Fluss, der nicht mehr derselbe war, wie noch am Morgen.