Gottes kleine Faust – Kapitel 30: Gott und die Welt

„Das hat Matthias auch gesagt. Oder so ähnlich. Er hat gesagt, dass jedes Kind als Engel auf die Welt kommt.“

Die Frau im roten Kleid lachte über das ganze Gesicht und Angie konnte blendend weiße Zähne sehen. Selbst die Zähne strahlten eine Helligkeit aus, die den Eindruck erweckten, die Frau sei wirklich eine „ gute Fee“.

Angie fragte gespannt: „ Kennen Sie Matthias?“

„Natürlich kenne ich deinen Freund. Du kannst übrigens auch zu mir „du“ sagen. Ich möchte deine Freundin sein.“

Angie staunte. Dann war die Frau also auch ein Engel. Wie Matthias. Die Hoffnung wuchs. Vielleicht würde ja noch alles gut. Sie musste mehr erfahren.

„Wo ist Matthias?“, fragte Angie. Die Frau im roten Kleid lächelte wieder freundlich und hob entschuldigend die Schultern zu einem Achselzucken. „Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Immer wenn ich komme, ist er schon wieder weg.“

Täuschte sich Angie oder klang der letzte Satz ironisch? Bei aller Wärme und Freundlichkeit, irgendwie war ihr die geheimnisvolle Frau nicht ganz geheuer.

„Entschuldige, wenn ich über deinen Freund Matthias enttäuscht bin, aber ich halte ihn für einen kleinen Angsthasen. Immer wenn es brenzlig oder unangenehm wird, haut er gerne ab.“

Angie versuchte, jedes Wort wie gebannt aufzufangen. Wie kam die Frau in Rot dazu, Matthias zu beleidigen? Aber irgendwie hatte auch sie dasselbe gedacht. Matthias war die Sache zu heiß geworden. Na klar! Und dann machte er sich davon.

„Genau so ist es, Angie.“, sagte die Frau in Rot. „Matthias hat gemerkt, dass sein sanftes Gerede von Gott und Jesus und den Engeln die Welt kein Stückchen besser macht.“ Sie ging hinüber zum Bett und setzte sich. „Deiner armen Mutter hat der „Liebe Gott“ oder der „Vater unser im Himmel“ nicht geholfen.“

Angie bemerkte, wie die Hand der Frau in Rot zitterte. „Was ist das für ein Gott, Angie, wenn er die Menschen nicht einmal vor so einem schweren Unfall beschützen und bewahren kann! Was ist das für ein Gott, wenn du deine Mutter verlierst?“

Die Frau in Rot war richtig ärgerlich geworden und Angie erschrak einwenig. Aber das waren im Grunde auch ihre eigenen Gedanken. Das hatte sie doch noch eben mit der Oma besprochen. Und auch der Brief an Johannes zielte in dieselbe Richtung. Doch seltsamerweise vermochte Angie nicht mit der Frau „zusammen“ gegen Matthias und gegen „seinen Gott“ zu schimpfen.

Bei aller Übereinstimmung mit diesem merkwürdigen Wesen in Rot, verstand Angie nicht, wieso diese Frau Gott so sehr attackierte. Sie war doch selbst ein „Engel“! Musste sie nicht Angie den Unfall mit der Mutter irgendwie erklären können? Die konnte das doch nicht einfach so „auf Gott sitzen lassen“. Sie musste doch versuchen, ihn irgendwie zu verteidigen!

Ein seltsamer Engel war das, dachte Angie. „Aber es war doch ein Unfall!“, hörte sie sich selbst Gott verteidigen, obwohl sie gar keinen Grund dafür hatte. Doch tief in ihrem Herzen – oder war es die Seele? – spürte sie, dass es noch immer auch ihr Gott war, selbst wenn sie wütend auf ihn war. Die Sehnsucht nach Hilfe, die von ihm kommen konnte, war noch immer größer, als die totale Abwendung von Gott.

„Meine Mutter hätte nicht diesen viel zu leichten Fleece-Pullover am Brennofen tragen dürfen. Mich hatte sie immer gewarnt, dass ich das nicht tun dürfe. Und jetzt ist sie selbst nicht vorsichtig genug gewesen. Das war ein ganz schlimmer Fehler. Meine Mutter ist,“ sie zögerte, „… irgendwie … auch selbst schuld.“

Während ihr dieser Satz mühsam und langsam über die Lippen schlich, nickte sie leise mit dem Kopf. „Das ist so furchtbar! Aber leider ist es so und es ist nicht mehr zu ändern.“ Erneut stiegen Tränen in ihr auf, aber nur eine kullerte die Wange hinunter.

 

„Aber Angie“, sagte die Fee und wischte ihr die Träne mit einem roten Tuch von der Wange, „Das darfst du nicht einmal denken, hörst du? Deine Mutter hat alles richtig gemacht. Gott allein trägt die Schuld, niemand sonst. Wenn Gott nur gewollt hätte, dann hätte er sehr wohl den Unfall verhindern können.“

Die Frau in Rot schaute Angie jetzt direkt in die Augen. Sie war nur wenige Zentimeter von Angie entfernt. Ihre Augen schienen sich mit Angies zu verschmelzen. Eine bedrohliche hypnotische Wirkung ging auf einmal von ihr aus, als sie lauter als zuvor sagte: „Ein Gott, der das nicht verhindern kann, vor dem spucke ich aus!“

Und dann spuckte die Frau in Rot tatsächlich verächtlich aus!

Dort, wo die Spucke landete, stieg plötzlich Rauch auf! Funken sprühten und ein kleines Loch brannte in den Teppich. Diesmal erschrak Angie heftig. Ein Blick über den Rand der Brille versicherte ihr aber, dass der Teppich weiterhin unversehrt war: der Teppich hatte nur „in der Brille“ Schaden genommen. Sie würde Oma also nicht den Brandfleck erklären müssen…

Aber sie blieb aufgebracht. Der Engel hatte vor Gott ausgespuckt! Das ging doch nicht! Das durfte man doch nicht tun! Auch wenn sie nicht wusste, warum sie tief in ihrem Innern an Gott festhielt – oder festhalten wollte – , der, warum auch immer, das Elend, den Tod und die Verbrechen in der Welt zuließ: Man durfte doch nicht vor Gott ausspucken!

Sie verstand zwar absolut nicht, warum Gott das alles zuließ, aber sie begriff sehr wohl, dass nur weil sie die Antwort nicht kannte, sie Gott deswegen nicht schon verurteilen durfte. Eine Antwort nicht zu kennen, hieß doch nicht, dass Gott deswegen schon „böse“ war und die Menschen absichtlich leiden ließ.

Sie erinnerte sich auf einmal wieder an das „Gleichnis vom Unkraut im Weizen“. Ein Verdacht stieg in ihr auf. Aber bevor sie ihn zu Ende denken konnte, unterbrach die Frau in Rot: „Warum man Gott nicht verurteilen darf?“ fragte die Frau und ihre Stimme klang jetzt sehr viel weniger freundlich und warm. Mehr noch: Sie fuhr weiter fort, Gott anzuklagen: „Wie behandelt denn der „Liebe Gott“ deine Mutter? Sieh selbst!“

Und mit einem Male, sah Angie die Mutter im Krankenhaus. Durch die Brille hindurch sah sie die Mutter in einem Bett liegen. Sie war an viele Schläuche und Leitungen angeschlossen, die sie wie ein mächtiges „Spinnennetz“ umschlossen. Auch wenn dieses Gewirr an Schläuchen und Leitungen das Leben der Mutter retten sollten, so wirkten sie auf Angie schrecklich und bedrohlich. Angie wollte am liebsten sofort ans Bett der Mutter springen, aber dann musste sie erkennen, dass sie die Mutter nur durch die Brille sah. Angie war noch immer nur in ihrem Zimmer, wo die Frau in Rot weiter anklagte: „Und wie geht Gott mit den vielen Menschen in der Welt um, die zu Millionen in den Krankenhäusern leiden?“

Angie sah jetzt andere Bilder durch die Brille. Es war, als ob die Frau in Rot eine Fernbedienung eines Fernsehapparates in der Hand hielt und rumzappte. „Und wie gerecht ist Gott zu den Menschen, die noch nicht einmal ein Krankenhaus oder eine Unterkunft finden, wo sie wenigstens von guten Menschen versorgt werden könnten? Warum sterben so viele Menschen dermaßen ungerecht und ohne Grund? Warum will Gott nicht endlich aufhören mit den Kriegen, den Terroranschlägen und der brutalen Gewalt überall? Spuckt nicht Gott selbst ständig auf die Menschen nieder? Macht er sich nicht täglich lustig über sie?“

Der seltsame Engel hatte sich jetzt sehr erregt und war immer lauter und zorniger geworden. Gerade eben hatte er so mächtig mit dem Fuß aufgestampft, dass das Silberkettchen verrutschte. Für einen Moment meinte Angie das Bild auf dem Medaillon erkennen zu können – aber dann rutschte es zurück.

Angie wusste nicht, wie ihr geschah, aber je mehr der rote Engel wütend wurde, desto mehr meinte sie, ihm widersprechen zu müssen. Was konnte denn Gott dafür, dass sich so viele Menschen für den Krieg und den Terror und die brutale Gewalt entschieden? Litt er nicht selbst darunter, dass sich Menschen gegen die Liebe und für die Gewalt entschieden? Hatte nicht auch Jesus darunter gelitten? Musste nicht sogar selbst Jesus den völlig ungerechten und unnützen Tod am Kreuz sterben? Gott musste doch auch leiden, als sein Sohn, der als „Retter“ in die Welt gekommen war, von den Menschen hingerichtet wurde, dachte Angie.

„Sag mal wie blind bist du eigentlich?“ keifte jetzt die Frau in Rot. Ihr Gesicht sah auf einmal verzehrt aus und verwandelte sich mehr und mehr in eine böse Fratze. „Warum machst du die Augen zu vor dem, was so offensichtlich ist? Gott ist an allem schuld, weil er das Leid und das Elend zulässt! Verzichte auf Gott! Hör auf mich und streiche ihn aus deinem Leben! Dann wirst du sehen, dass alles wieder gut wird!“

Die Frau in Rot war wild hin und her gesprungen und in ihren Augen tobte ein flackerndes, rötliches Feuer. Als sie sich so wild bewegte, erkannte Angie plötzlich für einen Moment das Emblem auf ihrer Kette: es war eine Schlange, vereint mit einer Spinne!

Angie erschrak fürchterlich! Auf einmal wusste sie, wer da vor ihr stand! Es gab keinen Zweifel mehr. Vor ihr musste der gefallene Engel stehen, von dem Matthias gesprochen hatte. Der Engel, der einmal aus dem Himmel gestoßen worden war:

Der Teufel, der Satan, das BÖSE!