Gottes kleine Faust – Kapitel 5: Eine Notlüge

Angie hörte den alten Wolf um die Ecke biegen. „Wolf“ nannte Angies Vater seinen Wagen, einen 14 Jahre alten Volvo. „Wolf“ und Angie waren Zwillinge, scherzten manchmal ihre Eltern, weil Angie und das Auto beinahe gleich alt waren. Angies Eltern hatten es gekauft, als Angie „unterwegs“ war. Kein Motor klang so beruhigend wie der von „Wolf“. Als kleines Kind war Angie immer gleich eingeschlafen, sobald sie losgefahren waren und auch jetzt noch fiel ihr das Einschlafen leicht, wenn sie mit ihrem Vater allein unterwegs war und lange Strecken fuhr. Papa fuhr, wann immer er es möglich machen konnte, mit zu Angies Wettkämpfen. Der „Wolf“ war immer ein Teil der Familie Mertens. Papa hatte ihn behalten, weil er auch einen von den Zwillingen behalten wollte. Das hatte er zumindest zu Angies Mutter gesagt. Angie hatte damals geweint…

„Angie? Bist du schon angezogen? Ich habe Brötchen mitgebracht. Kommst du runter zum Frühstück?“
Angie sprang schnell in die blaue Jeans mit dem „Tattoo“, die sie so gern trug. Zu sehen war eine Spinne, die langsam am linken Oberschenkel Richtung Po unterwegs war. Dazu passend entschied sie sich für den hellblauen Poncho-Pulli.
„Ich komme!“ Sie warf noch das Tagebuch zurück in die Schublade, schloss es ordentlich ab und rannte schon die Treppe hinab zur Küche. Den Schlüssel trug sie sicherheitshalber wieder bei sich.

„Na Kleines, hast du wieder von Löwen geträumt?“, begrüßte sie Paps mit einem Lächeln und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Wie kommst du auf Löwen?“, fragte Angie erstaunt und schaute an Papa empor, der ihr manchmal wie ein Riese vorkam, besonders dann, wenn sie ihn länger nicht mehr gesehen hatte.
„Na, weil mein Buch fehlt, und irgendeine Riesenkatze heute Nacht durch das Haus geschlichen sein muss. Das hat mir Mama zumindest erzählt“.

Er warf einen Blick zu Angies Mama, die im Bademantel und verschlafen schon am Tisch saß und ihrer Tochter einen Kuss durch die Luft schickte.
„Guten Morgen mein Schatz! Komm, setz dich zu uns.“

Angie begrüßte beide mit einem Kuss. Sollte sie die Gelegenheit nutzen und gleich mit ihren Neuigkeiten rausrücken? Zu gern hätte sie sich mit jemandem besprochen. Aber ob ihre Mutter und ihr Vater die richtigen waren?
Später wollte sie auf jeden Fall ihre beste Freundin Anna anrufen, aber die würde wahrscheinlich gleich einen Lachanfall bekommen. Sie beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und zumindest eine Kleinigkeit von ihrem Geheimnis preiszugeben.

„Die Riesenkatze war ich, Mama. Ich konnte heute Nacht einfach so schlecht einschlafen. Dauernd ging mir etwas durch den Kopf herum.“
„Was denn, Liebes? Muss ich mir Sorgen machen?“
Auch Herr Mertens hob besorgt die Augenbrauen und sah unbemerkt hinter Angies Rücken seine Frau an. Die machte eine ratlose Geste mit den Schultern und hakte nach.
„War gestern irgendwas in der Schule, das dich noch so lange beschäftigt hat?“

 

 

Angie schaute von ihrem Brötchen auf und bemerkte den Hauch von Sorgen als unsichtbares Band zwischen ihren Eltern. Jetzt musste sie ganz vorsichtig sein. Sorgen sollten sich ihre Eltern wirklich nicht. Nicht wenn sie endlich wieder gemeinsam an einem Tisch saßen. Obwohl es schön war, dachte sie, dass sich beide gemeinsam sorgten. Aber sie wollte sich auch nicht lächerlich machen…

„Ich habe so eine schwierige Hausaufgabe in Religion auf. Ihr wisst ja, bei Frau Quentin“, begann Angie vorsichtig mit einer Lüge. Sie hasste Lügen und wunderte sich selbst, wie leicht ihr diese „Notlüge“, über die Lippen kam. “Wir sollen uns Gedanken machen über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Engeln und Menschen.“

Nicht schlecht, dachte Angie, das klingt sogar gut. Perfekt! Auf so eine Aufgabe wäre Frau Quentin nie gekommen. Aufmerksam blickte sie auf die eben noch besorgten Gesichter ihrer Eltern. Ein Tick Ratlosigkeit zeichnete sich jetzt auf beiden ab.

„Also spontan fällt mir da nur die Sache mit den Flügeln ein. Aber ich glaube nicht, dass dir das viel weiter hilft“.
Ihr Vater fand als erster eine Antwort. „Vielleicht sollte ich das Ganze bei einer guten Tasse Kaffee bedenken“, und er schüttete sich etwas von Angies Frühstücksbeitrag in die Tasse. Angie sprang auf, weil sie wieder den Zucker vergessen hatten. Wie eine Kellnerin stellte sie sich neben ihren Vater auf, verbeugte sich leicht und häufte eine klitzekleine Prise in die Tasse und sagte:

„Si vous plait, Monsieur. Gerührt oder geschüttelt?“
„Ich schüttle dich gleich, wenn du dich nicht sofort wieder hinsetzt, du Kasper!“
Angie musste aufpassen, dass der liebvolle Klaps, der unterwegs war, sie verfehlte und rutschte schnell wieder hinter ihren Brötchenteller.

Jetzt mischte sich ihre Mutter ein: „Du weißt, ich bin in Reli- und Kirchenfragen auch kein Ass. Aber sind Engel nicht die „Bewohner des Himmels“? Sie schwirren im Himmel umher und bedienen Gott, oder so? Was sollen denn die mit uns gemeinsam haben?“
„Siehst du, das habe ich mich auch gefragt“, warf Angie schnell dazwischen, „und deswegen habe ich schließlich das Lexikon geholt, damit ich weiterkomme.“
„Und? Konnte es dir helfen?“
„Ja, ich glaube schon. Das ist wirklich prima, dein Lexikon. Darf ich es nachher mitnehmen? Bitte, Paps Wir treffen uns bei Anna. Wir wollen gemeinsam Laufen gehen und hinterher zusammen Hausaufgaben machen. Ist das okay?“

Angies Mutter nickte. „Ich habe nichts dagegen. Und du, Klaus? Es ist dein Lexikon…“
Angies Vater zuckte erneut mit den Achseln. Nur diesmal bedeutend entspannter. „Hauptsache ich sehe euch beide rasch wieder“, antwortete er, „dich und mein schönes Lexikon. Kommt bitte beide heil und gesund wieder, ja?“ Dann fügte ernster hinzu: „Ich muss jetzt sowieso noch einmal in die Klinik…“

Angie bemerkte, wie ihre Mutter leise den Kopf schüttelte. Sie sagte aber nichts. Sie litt darunter, dass das Krankenhaus immer den ersten Platz im Leben von Angies Vater einnahm. Das würde wohl nie anders werden.

„Aber vielleicht können wir ja heute Abend etwas zusammen machen?“ schlug Angies Papa vor. „Dann kannst du mir auch erzählen, was ihr herausgefunden habt und ich muss nicht länger als dummer Akademiker umherirren.“
„Ach Paps,“ seufzte Angie, „ du musst immer alles veralbern.“
„Nein, wirklich: ich finde es prima, dass Anna und du zusammen trainieren wollt, und dass ihr euch bei den Hausaufgaben helft. Also, was ist nun mit heute Abend? Habt ihr Zeit?“
Angie lachte und hob die Hand.
„Wollen wir nicht mal wieder zusammen einen Spiele-Abend machen? So wie früher?“
Beide blickten in gespannter Erwartung zur Mutter.
„Bitte, Mama!“
Frau Faust zögerte. Dem Blick von Angie aber konnte sie nicht standhalten. Ihr Widerstand verschwand:
„Na klar, auch wenn ich wahrscheinlich wieder verlieren werde.“
Und mit Blick auf Angies Vater fragte sie:
„Bist du um sechs wieder hier? Ich koch was Gutes!“
6 Uhr? Das könnte eng werden , dachte Angie, obwohl sie gar nicht mit der Frage gemeint war. Sie hatte sich ja noch nie mit einem Engel getroffen… I
Ihr Vater beantwortete jedenfalls die an ihn gerichtete Frage mit „Na klar!“.
„Also 18.00 Uhr!“ sagte die Mutter und auch Angie nickte kräftig mit dem Kopf. Sie sah beide fröhlich an.
„Prima!“ sagte jetzt auch ihr Vater und grinste verliebt über den Tisch. „Wie dein Kaffee, Angie!“