Gottes kleine Faust – Kapitel 6: Anna

Nach dem Frühstück schnappte sich Angie gleich das Telefon und verschwand in ihrem Zimmer. Es wurde höchste Zeit, dass sie sich mit Anna absprach. Sie wollte sich nicht noch mehr in „Notlügen“ verstricken. Angie warf sich auf ihr Bett und wählte ihre Nummer.

Anna wohnte drei Straßen weiter, ging aber nicht auf das Goethe – Gymnasium, sondern in die eigentlich näher gelegene Stiftsschule, einer kirchlichen Privatschule. Sie schwammen aber im selben Schwimmverein.

Kaum gab das Telefon das Klingelsignal, war Anna auch schon dran.
„Das hat ja gedauert, du Langschläferin, “ begrüßte Anna ohne Vorrede ihre Freundin. „Was treibst du denn so lange?“
„Ich habe heute etwas länger geschlafen, weil ich nachts noch zu tun hatte.“
„Was hast du denn nachts noch zu tun? Übst du schon für Englisch nächste Woche?“
„Quatsch. Es hat mit einem Neuen in meiner Klasse zu tun. Matthias. Der hat so merkwürdige Sachen gesagt und da musste ich ein paar Nachforschungen anstellen.“
„Ihr habt einen Neuen in der Klasse? So mitten im Schuljahr?“
„Ja. Ist doch nichts Ungewöhnliches, oder?“
„Und der beschäftigt dich gleich so sehr, dass du Nachts wach bleibst? Das sind ja echte Neuigkeiten!“
„Da siehst du mal. Und du bist die erste, der ich davon erzähle.“
„Dafür bin ja deine beste Freundin. Und damit das auch so bleibt, musst du mir noch mehr erzählen.“
„Mach ich auch. Hast du heute Nachmittag Zeit? So gegen vier?“
„Klar, wir wollten doch sowieso zusammen trainieren. Gehen wir Laufen oder Schwimmen?“
„Mir egal, ich will mit dir reden!“
„Dann lass uns lieber Laufen gehen. Aber warum so spät? Geht´s nicht eher?“
„Nee. Ich muss erst noch was erledigen.“
„Ah! Hängt das auch mit Matthias zusammen?“
„Ja klar. Aber mehr verrate ich noch nicht. Wir sehen uns dann später bei dir. Okay?“
„Alles klar. Bis dann also. Beeil dich. Ich kann es kaum erwarten.“
Angie legte den Hörer zurück.

Sie wechselte von der Bauch- in die Rückenlage und ließ den Kopf tief in ihr Kissen sinken. Sie starrte an die Decke. Glück gehabt, dachte sie. Das war nicht soo schwer gewesen. Der schlimmere Teil stand ihr dann also wohl für den Nachmittag bevor. Sie fürchtete sich nicht wirklich vor dem Treffen mit Anna. Richtig „Schiss“ aber hatte sie vor der Begegnung mit Matthias!

Sie holte noch einmal ihr Tagebuch aus der Schublade. Ob sie den Eintrag nur geträumt hatte? Irgendeine ….? Sie kam nicht auf das Wort. Aber sie hatte Hoffnung, dass es genau das gewesen wäre, heute Morgen, als sie noch so müde war und ohne Frühstück.

Angie blätterte erneut auf die Seite vom 22. September. Die Spannung stieg.. Noch einmal umblättern … Doch! Die Nachricht stand immer noch da!

 

 

Schnell überflog sie die kurze Nachricht. Unverändert! Mehr als der Inhalt machte sie aber immer noch das „Wie?“ der Mitteilung völlig fertig.

Wie, wie, wie? hämmerte es in ihrem Kopf. Ein Telefonanruf, eine SMS oder eine E-Mail von Matthias wären jeweils für Angie schon völlig undenkbar gewesen. Aber die Nachricht im Tagebuch …. das war im Grunde – naturwissenschaftlich betrachtet – doch gar nicht möglich. Wunder gab es nicht, das war ihr klar. Wunder? Nein, das kam ja wohl gar nicht in Frage. Oder doch? Engel konnten vielleicht Wunder vollbringen…

Angies Augen bekamen wieder den suchenden Blick. Sie fand das Lexikon von ihrem Vater unter einer Falte der Bettdecke und schlug unter „W“ nach. Wieder las sie hastig, was dort stand:

„Wunder sind Ereignisse, die mit naturwissenschaftlichen Maßstäben nicht erklärt werden können. Für die Menschen der neutestamentlichen Zeit stellten Not, Krankheit und Tod ein genau so großes Problem dar, wie für die modernen Menschen heute. Damalige Menschen jedoch waren bereit und fähig, oftmals unverständliche und unerklärliche Vorgänge in Natur und menschlichem Leben als Hinweis auf überirdische Mächte zu sehen…“

Diesmal hatte Angie wohl Recht. Wunder gab es scheinbar. Aber wollte sie Recht haben? Heutzutage gab es keinen Grund mehr, an Wunder zu glauben, stand in Papas Buch. Angie wälzte sich zur Seite. Engel gab es angeblich und Wunder sollte es nicht geben? Das passte doch nicht zusammen. Warum hatte sie bloß dieses sichere Gefühl, das Matthias nicht log? Und warum hatte sie bloß diese Frau Quentin in Religion? Angie war sich nicht sicher, ob sie jemals solche – für Angie auf einmal wichtige religiöse – Fragen im Unterricht besprochen hatten. Immer ging es nur um Drogen und Gewalt, um Sekten und Satanismus. Über die christliche Religion im engeren und tieferen Sinn hatte sie, so stellte sie plötzlich erstaunt fest, keinen Schimmer.

Im letzten Jahr hatten sie ein Projekt „Nächstenliebe“ durchgeführt. Das war prima gewesen, denn sie durfte während der Schulzeit ihren Vater im Krankenhaus bei der Arbeit besuchen. Doch was das mit Religion zu tun gehabt haben sollte, daran konnte sie sich jetzt nicht mehr erinnern. Merkwürdig. Angie hatte nie besonders aufgepasst. Religion war langweilig!

Nicht, dass sie nicht geglaubt hätte, dass es da „oben im Himmel“ etwas „Göttliches“ geben könnte, … irgendetwas musste es doch geben, oder nicht?

Im Grunde hatte sie niemals diese Dinge zu Ende gedacht. Sie hatte nicht wirklich eine Konsequenz aus ihren Überlegungen gezogen. Es hatte auch nie wirklich einen Grund dazu gegeben. Angie hatte sich auch nie entscheiden müssen. Nicht richtig, jedenfalls.

In die Kirche ging sie zwar ab und zu, denn ab und zu waren auch am Goethe – Gymnasium Schulgottesdienste. Dann kam immer ein anderer Prediger – manchmal katholisch, manchmal evangelisch – und erzählte etwas, von Gott und der Welt. Der Besuch war freiwillig. Angie ging an sich ganz gerne „freiwillig“ dorthin, denn so langweilig konnte es gar nicht werden, dass der Wunsch, eine Englisch- oder Mathematikstunde zu verpassen, sie nicht doch zum Gottesdienst trieb. Die Versuchung war einfach zu groß, auf so eine Stunde zu verzichten! Bei Sport sah Angie das allerdings anders. Auf Sport – und auch Kunst – hätte sie niemals freiwillig verzichtet.

An Weihnachten ging Angie regelmäßig in die Kirche. Mit ihrer Mutter besuchte sie das Krippenspiel. Das war immer sehr schön. Und früher hatte Angie sogar selbst mitgespielt! Aber das war ein Spiel gewesen. Irgendwie war alles immer Spiel geblieben. Jedenfalls war es niemals so ernst gewesen, dass Angie wirklich darüber hätte nachdenken müssen, ob es wirklich Engel gab und Wunder.

Sie hatte auch niemals ernsthaft darüber nachgedacht, ob es Gott überhaupt gibt! Und jetzt war Matthias aufgetaucht und sie dachte seit 24 Stunden kaum noch an etwas anderes !

Unglaublich, dachte sie. Unglaublich! Was glaube ich eigentlich?