Gottes kleine Faust – Kapitel 8: Thomas

Sie wusste nicht, wie lange sie schon dort saß. Die Zeit schien aufgehört haben zu existieren. Der Wind blies über den See und bewegte das Schilfmeer. Ihre Wangen glühten, aber der Wind brachte keine Kühlung. Angst hatte sie keine mehr. Dafür war in ihrem Kopf auch gar kein Platz. Dennoch brummte ihr Schädel. Die Gedanken waren in Unordnung.

Das Böse… gab es, das wusste sie. Aber sie hatte es noch nie im Zusammenhang mit Gott gesehen.
Unmöglich.
Sie selbst war doch auch nicht „gut“ oder „böse“, nie „Engel“ oder „Teufel“. Sie war immer „Angie“ und die Menschen mochten sie so, wie sie war, oder eben nicht. Aber das hatte doch nichts mit „Gott“ oder dem „Böse“ zu tun. Sie war doch einfach nur „Angie“.
Vielleicht waren die Verbrecher im Gefängnis und die Menschen, die dort rein gehörten dem „Böse“ verfallen, aber das hatte sie noch nie richtig überlegt. Und alle Menschen, die einfach von sich aus nicht „böse“, sondern im weitesten Sinne „gut“ waren, waren doch deswegen noch lange keine Engel, überlegte sie.
Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf hin und her. Was sie gehört hatte, wirbelte alles auf und konnte sich nicht mehr setzen. Ihr Kopf war wie eine Schneekugel, die kräftig durchgeschüttelt worden war und die sich nicht mehr beruhigen konnte.

Sie überlegte weiter.
„Gut“ ist das, was ich fühle. Und was „böse“ ist, fühle ich auch.- Aber manchmal irre ich mich auch und kann „gut“ und „böse“ nicht unterscheiden! Oft entscheidet es sich alles erst hinterher oder… neu. Der Glaube an Gott ist doch auch nur so ein Gefühl…

„Dein Gefühl täuscht dich nicht“, sagte Matthias plötzlich, als konnte er Gedanken lesen.

Kann Matthias Gedanken lesen, fragte sich Angie?
„Ja, das kann ich“, antwortete Matthias und lächelte. Seine Sorgenfältchen waren verschwunden, er wirkte wieder ganz entspannt und beinahe fröhlich.

„Hallo Matthäus! Macht das Mädchen mit?“

Angie wirbelte herum. Ein schlecht rasierter Mann mit seltsamer Kleidung, braunem Umhang und einem merkwürdigem Kopftuch stand plötzlich neben ihr auf dem Steg. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Wie lange er schon da stand und woher er gekommen war, wusste sie nicht. Schnell rutschte sie an Matthias heran und griff nach seinem Arm.

„Oh, hallo Thomas. Da bist du ja schon. Darf ich vorstellen: Angie! Angie, das ist mein Freund Thomas.- Erinnerst du dich, dass ich dir jemanden vorstellen wollte? Ich dachte hier wäre eine gute Gelegenheit.“

Was passiert hier eigentlich, dachte Angie.

Der Mann sah unrasiert und schmutzig aus, seine Sandalen schienen einige Nummern zu groß, aber wirkliche Furcht flößte er ihr nicht ein. Sein Gesicht war sonnengebräunt und es lächelte jetzt, als Thomas ihr die Hand reichte.

 

„Schalom!“, sagte er.
„Das heißt „Frieden sei mit dir,“ übersetzte Matthias.
„Schalom“, sagte jetzt auch Angie und streckte ihre Hand marionettenhaft der von Thomas entgegen. Ein wenig bewunderte sie sich für ihren Mut, oder war es Trotz? Sie wusste es nicht.

„Wo kommen Sie denn her?“, fragte sie und bemühte sich um ein Lächeln, das sicher wirken sollte.

Thomas nahm seine merkwürdige Kopfbedeckung, eine Art Turban, ab, kratzte seine dunkelblonde Mähne, die ihm quer über das Gesicht fiel und setzte sich zu ihnen. Nachdem er auch seine Ledersandalen ausgezogen hatte und seine Füße im Wasser baumelten, fing er an zu reden
„Das tut gut! Ich wusste schon gar nicht mehr, wie das ist.“

Hatte Thomas ihre Frage nicht gehört? Ein Blick in das Gesicht von Matthias beruhigte sie. Er sah fast vergnügt aus. Auch er zog seine Schuhe aus und tauchte seine Füße in das Wasser. Da gab sich auch Angie einen Ruck. Sie streifte mit den Füßen die Turnschuhe ab – so wie ihre Mutter das überhaupt nicht mochte…- und setzte sich mutig zwischen die beiden. Das Wasser kühlte wunderbar.

Endlich ging Thomas auf ihre Fragen ein
„Weißt du Angie, mir ging es ähnlich wie dir heute. Damals… vor mehr als 2000 Jahren.- Ich sollte dazu gehören und wusste nicht, was sie von mir wollten.“

Angie verstand gar nichts. Von wem oder was redete Thomas? Sie warf erneut einen Hilfe suchenden Blick zu Matthias, der ihr aber nur fröhlich zuzwinkerte. Thomas redete weiter: „Niemand versteht besser als ich, was es heißt, zu zweifeln oder zu glauben. Naja, vielleicht auch noch Petrus. Was meinst du, Matthäus?“

„Da hast du wohl Recht, “ antwortete Matthias.
Als er sich zu Angie umsah, blickte er in zwei ratlose Augen.
Wovon redeten sie, fragte sich Angie und war komplett ratlos. Und Thomas hatte Matthias schon wieder Matthäus genannt. Der Name klang so altertümlich. Genau wie der von Petrus. Ob Thomas den Petrus meinte, der…

„Das geht zu schnell Thomas, “ sagte Matthias, ehe Thomas fortsetzen konnte. Jetzt fing er selbst an zu erklären
„Thomas nennt mich mit meinem Namen, den ich von alters her trage. Ich habe dir gesagt, dass ich ein Engel bin. Und das stimmt im Grunde auch. Denn von der Zeit an, als ich die Geschehnisse um Jesus Christus aufschrieb und festhielt, haben mich die Menschen als „Engel“ begriffen und dargestellt. Ich kann dir Bilder in deinen Schulbüchern zeigen, die mich als Engel darstellen. Ich bin als Engel benannt worden, die anderen – Markus, Lukas und Johannes- als Löwe, Stier und als Adler. Uns vier nennt man „Evangelisten“. Kennst du das Wort?“

Angie brauchte nicht zu antworten, denn ohne eine Antwort abzuwarten, nahm Matthias einen Ast, der auf dem Steg lag und schrieb damit das Wort Evangelium ins Wasser, als wäre es Eis, nur weicher. Ohne zu gefrieren, blieb das Wort im Wasser lesbar, wie auf einer Tafel. Er unterstrich in der Mitte die Buchstaben angel .

„Siehst du das Wort? Es ist auch in deinem Namen: Angelika.“

Er schrieb jetzt ihren Namen ins Wasser.
„Weißt du, was das Wort „Angel“ heißt? Noch heute ist es das englische Wort für „Engel“. Und Engel bedeutet nichts anderes, als „Bote“. So eine Art Nachrichtenbringer. Ich habe als Evangelist die Nachrichten festgehalten und übermittelt, die ich von Jesus zu meiner Zeit wusste. Das haben Markus, Lukas und Johannes, die anderen drei Evangelisten ebenso gemacht. Und weil unsere Nachrichten „gute“ Nachrichten sind, bedeutet die Silbe hier vorne…. – Matthias unterstrich nun noch „Ev“ – „gut“. Ich habe das Evangelium als die Gute Nachricht von Jesus Christus aufgeschrieben.“

Ein Blatt fiel von einem Baum ins Wasser und das Wort verschwamm in den Wellen.

„Dann bist du der Evangelist Matthäus?“
Angies Stirn zog sich zu vielen kleinen Falten zusammen, so sehr arbeitete es dahinter.

„Ja!“ antwortete Matthias knapp. „Aber sag ruhig weiter Matthias zu mir. Das meint dasselbe und klingt irgendwie moderner, oder?“

Spinn ich jetzt oder spinnen die beiden, dachte Angie und kniff sich vorsichtig. Alles war so unwirklich und dennoch real. Sie spürte einen kleinen Schmerz, aber sie erwachte aus keinem Traum. Nichts war mehr so wie noch vor 48 Stunden. Auch schien sie nicht mehr dieselbe zu sein. Sie hakte mutig nach:
„Und du bist Thomas und auch ein Evangelist?“
„Nein, ich bin ein Apostel“, antwortete Thomas.

Er lag jetzt ausgestreckt auf dem Rücken, die Füße baumelten immer noch im Wasser. Sein Blick ging steil in die Höhe. Fragend schaute Angie erst Thomas, dann Matthias an.

„Ein Apostel ist der Name für einen der zwölf sehr engen Schüler, die Jesus sich ausgewählt hatte. Sie setzten nach dem Tod und der Auferstehung Jesu seine Arbeit fort.“

Angie nickte, obwohl sie nicht verstanden hatte. Was war denn die Arbeit von Jesu gewesen? Doch das konnte ja auch noch später geklärt werden. Jetzt wollte sie zuerst über Thomas Bescheid wissen. Seine Andeutungen verstand sie überhaupt nicht.

„Was hast du vorhin gemeint, als du gesagt hast, dass du dazugehören wolltest, aber nicht glauben konntest?“

Thomas wandte den Blick vom Himmel und schaute sie freundlich aber auch sehr konzentriert an. Dann sagte er:

„Du bist in einer ähnlichen Situation wie ich damals. Vielleicht kann ich dir helfen, meinen Fehler nicht zu wiederholen. Denn ich war sehr starrköpfig musst du wissen.“
Zum ersten Mal lächelte Thomas breit über das ganze Gesicht. Matthias erwiderte das Lächeln.
„Ja, das warst du, aber dadurch bist du für die Menschen auch so wichtig geworden. Wenn du nicht so stark an der Auferstehung Jesu gezweifelt hättest, würden heute noch weniger Menschen die Gute Nachricht von Jesus glauben können.“

Matthias zog seine Schuhe an, als bereitete er sich zum Aufbruch vor, aber Thomas blieb seelenruhig liegen und erklärte weiter
„Auch ich bin damals angesprochen worden mitzumachen. Ich sollte einfach auf ein Wort hin glauben. Und das ging gar nicht. Das war total schwer für mich. Aber mit den anderen folgte ich Jesus und ich begriff, wie wichtig er war, und dass er die Welt verändern konnte. Dann aber nahmen sie Jesus fest und sie töteten ihn. Das hast du bestimmt schon gehört. Ich war verzweifelt. Mit ihm starb meine ganze Hoffnung auf eine bessere Welt, auf einen Himmel auf Erden. Wirklich! Ich hatte geglaubt, dass der Himmel auf Erden mit Jesus möglich war! Und dann starb Jesus am Kreuz.-„

Thomas machte eine kleine Pause, als leide er erneut. Fast ruckartig richtete er seinen Blick wieder auf Angie:
„Wir waren alle so verzweifelt. Nachdem Jesus hingerichtet und begraben worden war, fühlten wir uns nicht mehr sicher in Jerusalem. Wir fürchteten, dass wir dasselbe Schicksal erleiden würden und versteckten uns. Als ich einige Tage später meinte, dass sich alles beruhigt habe, ging ich zu meinen Freunden, den anderen Aposteln. Und die sagten mir, dass Jesus nicht mehr tot, sondern von den Toten wieder auferstanden sei.- Stell dir das mal vor!“

Thomas griff sich erregt an den Kopf.
„Von den Toten wieder aufgestanden sei er, sagten sie. Sie waren wie betrunken vor Freude, so als ob sie zuviel Wein getrunken hätten und sie meinten, ich solle mich mit ihnen freuen.- Freuen sollte ich mich! Aber ich war nur wütend und sauer, weil sie sich so schnell über den Tod Jesu hinweg setzen konnten.“

„Und was ist dann passiert?“ fragte Angie. Sie achtete überhaupt nicht mehr auf Matthias, ihr Blick hing an Thomas, der immer noch ganz aufgeregt schien.

„Ich habe den anderen gesagt, dass ich das nicht glauben kann, dass Jesus von den Toten zurück ist. Und ich habe ihnen auch noch gesagt, dass ich das erst glauben kann, wenn ich Jesus mit meinen eigenen Augen sehen und ihn mit meinen eigenen Händen anfassen kann!“

Thomas packte Angie bei den Schultern und begann, sie leicht zu schütteln. „Weißt du, ich brauchte Beweise! Ich habe nie einen Toten zurückkommen sehen. Das kann mir doch keiner übel nehmen… Aber heute schäme ich mich dafür, dass ich meinen Freunden nicht mehr vertraut habe. Jesus hatte zwar gesagt, dass er wiederkommen würde… Aber ich konnte es einfach nicht glauben!“

„Und dann hast du Jesus gesehen?“ fragte Angie atemlos.

„Ja. Er kam, als ich es am wenigsten geahnt hatte. Wir hatten Türen und Fenster verschlossen und auf einmal stand er mitten vor mir.- Und alle meine Zweifel waren weg. Aber ich schäme mich bis heute, dass ich meinen Freunden nicht vertrauen konnte…“

Thomas stand auf und ging den Steg zurück, wo Matthias wartete. Beide umarmten sich. Dann winkte Thomas Angie mit einer kleinen Handbewegung zum Abschied zu und rief:
„Mach meinen Fehler nicht noch einmal!“ Und dann ging er Richtung Schuppen und verschwand hinter einer Wand aus Schilf.

Matthias trat wieder näher heran. „Alles klar, Angie?“

Angie schaute immer noch Thomas nach. Sie antwortete nicht. Dann setzte sie sich wieder auf die alten Holzplanken und schaute hinaus aufs Wasser. Ihr fehlte Anna. Sie merkte auf einmal, dass sie jetzt einen Freund brauchte, dem sie vertrauen konnte. Sie hatte keine Angst mehr vor Matthias. Sie war froh, dass er bei ihr war. Aber der Freund, dem sie vertrauen konnte, war er nicht. Noch nicht.

Sie wendete den Blick und sah Matthias von der Seite an.
„Wir haben noch Zeit Angie,“ sagte er leise. Dann lächelte er und sagte: „Vielleicht kann ich ja dein Freund werden.“
Angie lächelte zurück. „Kannst du schwimmen?“