Sie steigt, ohne vorher eine Fahrkarte zu ziehen, in die Straßenbahn ein, in der Hoffnung, nicht kontrolliert zu werden. Es ist Monatsmitte, da werden aus Erfahrung nicht mehr so häufig Kontrollen vorgenommen. Sie kennt die Typen in ihren dunklen Hosen und beigen oder grauen Anoraks. Sie steigen ganz zum Schluss erst zu. Vorsichtshalber stellt sie sich an den Ausgang, um zur Not die Flucht ergreifen zu können. Bisher hat das stets gut geklappt. Nur diesmal ist alles anders. Sie steigen gleich als Erste ein. Einer vorne, der andere nimmt die Mitteltür. Sie tun so, als ob sie sich nicht kennen, und mischen sich unter die Mitreisenden. Dann fährt die Bahn los und schon ist zu hören: „Dürfte ich mal bitte den Fahrausweis sehen?“
Sie hört ihr Herz pochen. Der Puls schlägt immer schneller. Sie sucht nach einer Lösung, wie sie hier am besten herauskommen könnte. Die Bahn ist gut besetzt. Bis er zu ihr vorgedrungen ist, könnte die Bahn wieder halten. Dann könnte sie ganz schnell rausspringen. Das wäre die Rettung. Könnte, könnte, alles nur Mutmaßungen. Noch etwa hundert Meter bis zur nächsten Haltestelle. Unruhig verlagert sie ihren Körper von einem Bein auf das andere. Jetzt steht der Kontrolleur fast vor ihr. Die Straßenbahn leitet bereits den Bremsvorgang ein. „Fahrkartenkontrolle. Ihren Fahrschein bitte“, spricht er in einem bestimmenden Ton. Die Straßenbahntür öffnet sich. Er verstellt ihren Ausweg. „Jetzt völlig cool bleiben“, schießt es ihr durch den Kopf. Sie greift in ihre Jackentasche und schüttelt den Kopf. Sie wühlt vergeblich in ihrer Handtasche. „Verdammt nochmal, ich finde ihn nicht. Moment bitte, vielleicht habe ich die Karte hinten in die Hosentasche gesteckt“, erklärt sie und versucht ein wenig Verzweiflung auszudrücken. Ihr ist inzwischen ziemlich klar, dass sich die Schlinge immer enger zuzieht.
Das Gesicht des Kontrolleurs verfinstert sich deutlich und er wird jetzt ungeduldig. „Was ist denn nun? Haben Sie nun einen Fahrschein oder nicht?“ Noch immer tut sie so, als ob sie verzweifelt nach dem Fagrscheion sucht. Sie spürt, dass viele Blicke anderer Fahrgäste auf sie gerichtet sind. Ihr ist es peinlich. „Kommen Sie bitte mit, wir klären das jetzt außerhalb der Bahn.“ Nun folgt die sich wiederholende Prozedur: Aufnahme der Personalien usw.
Dass das nur eine Ausnahme war, wünschen sich die Betreiber der öffentlichen Verkehrsmittel, und eigentlich sollte das auch selbstverständlich sein. Trotzdem ist immer wieder in den Medien von steigenden Schwarzfahrerzahlen die Rede. Das wirkt sich zwangsläufig auf die Höhe der Strafe, das so genannte „Erhöhte Beförderungsentgeld“ aus.
Waren es vorher noch 40 Euro, die man bei fehlendem Fahrschein zahlen musste, sind es seit dem 1. August 2015 60 Euro. „Wir wollen, dass unsere ehrlichen Fahrgäste sehen, dass Schwarzfahren kein Kavaliersdelikt ist und mit einer angemessenen Strafe geahndet wird, und wir hoffen, dass die 60 Euro abschrecken“, sagt NVV-Geschäftsführer Wolfgang Rausch. Doch nicht nur das Schwarzfahren wurde teurer, auch die Preise für die regulären Monatskarten werden stetig erhöht. Kosten Monatsfahrkarten für Schüler im Jahr 2010 noch 36 Euro, sind es aktuell 43,50 Euro, Tendenz steigend. Ob man dafür allein die Schwarzfahrer verantwortlich machen kann, ist unklar. Andere Faktoren wie die steigenden Strompreise oder eine erhöhte Zahl an Aufrüstungen an den Bahnen und Bussen könnten ebenfalls wesentliche Gründe dafür sein.
Doch von einem klassischen Schwarzfahrer, der als junger-, rebellischer Mann mit einem schwarzem Hoodie auftritt und durch das Schwarzfahren seinen Durst nach dem Nervenkitzel stillen will, kann hier ohnehin nicht die Rede sein. Wie sollte es auch, dafür sind die Gründe zu verschieden. Einige sollen hier vorgestellt:
Der technische Schwarzfahrer:
Hier handelt es sich oft um ältere Personen oder Touristen. Dies sind Menschen, die das Prinzip des Fahrkartenautomaten nicht verstehen oder nicht wissen, welches Ticket man wann braucht. Bis ihnen hilfsbereite Menschen gezeigt haben, wie es geht, sind sie oft schon an der Wunschhaltestelle angekommen, ohne für die Fahrt bezahlt zu haben. Diese vermeintliche Hilflosigkeit ist allerdings häufig auch einfach Teil einer Masche.
Der unwissende Schwarzfahrer
Sie oder er ist keiner bestimmten Gruppierung zuzuordnen. Er ist von den vielen Mythen, die es ums Bahnfahren gibt, verwirrt und glaubt diese oft. Dass dies ein fataler Fehler mit Konsequenzen ist, wird ihm oft viel zu spät bewusst: So glaubt der Unwissende fest an den Mythos, dass man für nur eine eine Haltestelle kein Ticket braucht, aber das ist natürlich frei erfunden und eine vermeintlich praktische Ausrede. Doch hier gilt: Auch Unwissenheit schützt nicht vor Strafe.
Der dreiste Schwarzfahrer:
Ein immer häufiger auftauchendes Phänomen ist dieser Typ. Der 16-jährige Pascal Peters (Name von der Redaktion geändert) sagt hierzu: ,,Manchmal halte ich es nicht für nötig, mir für zwei Haltestellen ein Ticket zu ziehen.“ Wenn der dreiste Schwarzfahrer kontrolliert wird, dann reagiert er ganz unterschiedlich. Entweder spielt er, besonders wenn er schon älter ist, die Mitleidskarte aus, oder benimmt sich wie ein Unschuldslamm, das eigentlich sehr brav ist und nur aus Versehen schwarzfährt. Oder aber er reagiert extrem und beleidigt die Kontrolleure, um von seinem eigenen Fehlverhalten abzulenken.
Geht man davon aus, dass eine große Anzahl an Personen kein Ticket erwirbt, dann bleiben die laufenden Kosten für die Bahnfahrt dennoch bestehen. Der plausibelste Weg ist es erstmal, die Schwarzfahrer zu erwischen und von ihnen ein erhöhtes Beförderungsentgelt zu verlangen. Doch um die Schwarzfahrer effektiv zu bekämpfen, müssen mehr Kontrolleure eingesetzt werden, um sie öfter zu erwischen. Da Kontrolleure aber auch nicht umsonst arbeiten, fällt diese Option weg. Das Geld muss also von den ohnehin zahlenden Bahnfahrern genommen werden. Dies geschieht allerdings nur schleichend und in Form von Preiserhöhungen der Tickets.
Eigentlich sollte man annehmen, dass das erhöhte Beförderungsentgeld von 60 Euro Schwarzfahrer größtenteils abschrecken müsste. Eine Straßenbahnfahrerin sagt hierzu aber Folgendes: „Die Belgier und Franzosen sind uns z.B. weit voraus, da es dort bereits Schwarzfahr-Versicherungen gibt, die im Falle einer Kontrolle die Strafe übernehmen!“ Das drückt doch ziemlich genau das aus, was die Schwarzfahrer wollen: Mobilität zu einem geringen Preis, in diesem Fall in Höhe der Versicherungsbeiträge.
In Stockholm zahlt man für das Erwischtwerden umgerechnet ungefähr 45 Euro, für die Schwarzfahr-Versicherungen allerdings nur eine Grundgebühr von etwa 11 Euro und für jedes weitere Vergehen zusätzlich eine Beteiligung von 11 Euro. In Paris hingegen zahlt man für das erste Mal 50 Euro und für das zweite sogar 72 Euro. Die Versicherung dagegen kostet den Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel nur einmalig 5 Euro im Monat. Also lohnt es sich nur bedingt, eine Schwarzfahr-Versicherungen zu haben.
In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch die Meinung von Bus- und Straßenbahnfahrern mit Ticket interessant: Freuen sie sich, wenn Schwarzfahrer erwischt werden? Ist es ihnen egal oder haben sie vielleicht sogar Mitleid mit ihnen, wenn sie kontrolliert werden?
„Melanie“ (Studentin) sagt uns hierzu: „Ich freue mich jetzt nicht unbedingt, wenn jemand kontrolliert wird, muss aber ehrlich sagen, dass ich es nicht in Ordnung finde, wenn jemand schwarzfährt. Durch Schwarzfahren wird nicht grundlos der Straftatbestand des „Erschleichens von Leistungen“ erfüllt. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir hier in Kassel so ein ausgeprägtes Nahverkehrssystem haben, und sollten deshalb auch bereit sein, etwas dafür zu bezahlen, wenn wir es nutzen wollen.“ Zur Information: Als „Erschleichen von Leistungen“ wird alles gewertet, bei dem man eine Leistung bekommt, diese aber nicht oder nicht wie gefordert bezahlt. Es ist sozusagen der Diebstahl von Leistungen.
Ein anderer Straßenbahnfahrer meint: „Ich finde Schwarzfahren ist jetzt nicht die schlimmste Straftat, die man begehen kann. Es kann oder will sich nun mal nicht jeder einen Fahrschein kaufen, und wie sie dann mit den Konsequenzen leben, ist ihr Problem. Ich finde allerdings, dass man im Falle einer Kontrolle dann auch fair sein soll und freundlich und respektvoll mit den Kontrolleuren umgehen muss. Das ist ja nur ihr Beruf, den sie ausüben müssen, um ihr Geld zu verdienen.“ Dem widerspricht allerdings sein Sitznachbar: „Ich kann es nicht leiden, wenn jemand schwarzfährt. Alles hat nun mal seinen Preis, so auch das Bahnfahren. Und wenn man das Geld dafür nicht aufbringen möchte, dann muss man ebenl laufen oder das Rad, den Wagen oder sonstige Transportmittel benutzen. Ich freue mich ehrlich gesagt über jeden gefassten Schwarzfahrer, da der Verlust der KVG, den sie anrichten, dann nicht von mir als ehrlichem Bahnfahrer beglichen werden muss!‘‘
Was ist nun der großen Reiz, der Kick: 2,80 Euro oder 60,00 Euro? Gilt etwa auch hier „Geiz ist Geil“? Nur eine Vision: Es gäbe eine Flatrate für die städtischen öffentlichen Verkehrsmittel, dann gäbe es keine Fahrkartenautomaten, keine Schwarzfahrer und keine Kontrolleure mehr.
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