Von unserer Redakteurin Anina Vetter (26.11.2002 23:07)
Es war an einem Sonntag, also heute vor 10 Jahren, also genau an diesem dritten Advent, als sich mein Leben änderte, obwohl ich keinen Einfluss darauf hatte. Ich kann mich noch ganz genau an Mamas Gesicht erinnern, als sie zu mir ins Zimmer kam und sich auf mein Bett setzte. Ich lag noch wach, wie jede Nacht, wenn Papa getrunken hatte und seine lauten Schritte auf der Wendeltreppe das gesamte Haus durchschallten. Ich wär nun so weit, sagte Mama, ich sei ein großes Mädchen geworden und könne sie nun verstehen.
Heute kann ich es. Am nächsten Morgen waren wir weg und eine 20-jährige Studentin nahm unseren Platz in Papas Haus ein. Ich weiß, dass diese Ehe ein Desaster war. Ich hatte es satt, jede Nacht von Geschrei aufzuwachen und bei dieser erstickenden Ruhe und dem Jammern meiner Mutter wieder einzuschlafen. Sie hatte in dieser Ehe die Rolle der Mutter – für mich so wie für meinen Vater. Manchmal sagte sie, ich wäre das einfachere Kind. Dann hat sie sogar gelächelt. Aber sonst weinte sie, sie weinte den ganzen Tag, überschminkte sich die Flecken im Gesicht mit einem Haufen Puder, der sie noch älter wirken ließ.
Sie war für mich da, da gibt es keinen Zweifel, und sie wäre es noch heute. Trotzdem habe ich ihr die Trennung nie verziehen. Das klingt egoistisch, ist es auch, aber dann wären wir noch etwas Intaktes, ein Pakt aus festem Zusammenhalt, eine Mischung aus Dick und Doof, eine Kombination aus einem Auto und Treibstoff, bei der jeder einmal der Treibstoff war – einfach meine Mutter und ich.
In der Ehe ging es ihr schlecht und ich konnte ihr helfen. Ich war ihr Rückenwind. Obwohl ich klein war, wusste ich genau, was zu tun war und wie ich ihr helfen konnte. Und wenn es nur ein kleiner Händedruck war, mit meiner kleinen, hilflosen Hand, oder ich sie einfach feste an mich drückte. Ich hatte eine Aufgabe, eine eigene Rolle in unserer kleinen Familie.
Als ich mit Mutter dann alleine war, brauchte sie mich nicht mehr. Sie traf sich mit Männern, die bei uns ein und aus gingen und mich mit irgendwelchen dämlichen Geschenken beeindrucken wollten. Mit zwölf hatte ich dann meinen ersten Freund, der jedoch nicht damit umgehen konnte, dass ich eine feste Schulter brauchte, die nur für mich allein gebaut war. Er war acht Jahre älter als ich. Der Psychiater meiner Mutter sprach von einem Vatersyndrom, natürlich verließ er mich nach wenigen Wochen. Ich glaube, er liebte meine Mutter.
Einige Zeit später kam die erschreckende Nachricht, an einem Sonntag, also genau vor sieben Jahren, also genau an diesem dritten Advent. Meine zweite Hälfte, meine bessere Hälfte, meine Mutter sollte noch zwei Jahre zu leben haben. Sie hatte Aids. Ich weiß nicht, ob das die Folge ihrer Männergeschichten war, jedenfalls machte ich ihr nun noch mehr Vorwürfe. Wären wir eine Familie geblieben, dann wäre das niemals passiert. Ich hasste sie dafür, dass sie mich alleine lassen wollte, mich, die immer für sie da war und sie stets unterstützte. Ich hasste sie dafür, dass sie mich jetzt nicht brauchte, dass ich ihr keine Hilfe mehr sein konnte, dass ich nun für mich selbst verantwortlich war. Dieses Gefühl hatte ich vorher nie kennengelernt. Heute weiß ich, dass man auch mal an sich denken muss, sonst macht man sich kaputt. Mutter hätte sich früher oder später das Leben genommen, wenn sie für mich bei Vater geblieben wäre.
Der Tag ihrer Beerdigung war nicht nur Abschied für immer, war nicht nur Schmerz und Leid, er war ein Teil meines Erwachsenwerdens und prägte mein Leben bis heute. Sie sagte mir, ich solle niemals Entscheidungen für andere treffen, solle stets das tun und lassen, was ich selbst möchte. An diesem Tag, also genau vor sechs Jahren, etwa um den dritten Advent herum, fing ich an, das zu verstehen. Ich war auf mich allein gestellt und von niemandem mehr abhängig.
Meine Mutter war eine sehr starke Frau, die versucht hat zu kämpfen. Sie konnte keine Rücksicht auf mich nehmen, sie selbst war ihr eigenes Problem. Sie war nie glücklich in ihrem Leben, aber immer stolz auf mich. Und ich glaube, sie war mir sehr dankbar. Dankbar dafür, dass ich sie akzeptiert habe, dass mich ihr Ruf als Prostituierte kalt ließ, dass ich versucht habe, auf mich selbst aufzupassen, weil sie es nicht gekonnt hätte. Sie konnte nicht mal sich selbst schützen. Aber sie war mein Ein und Alles. Sie war keine gute Mutter, aber sie hat mich stark gemacht. Und sie war kein Vorbild in ihren Taten, aber in ihrer Liebe, die sie nicht zeigen konnte, ich aber trotzdem spürte.
Heute sitze ich jedes Jahr an diesem Sonntag, am dritten Advent, der mich mein ganzes Leben lang begleitet, an ihrem Grab und denke an sie. Ich schreibe ihr Briefe und lese sie ihr vor. Ich überlege mir, dass ihre Leidensgeschichte auch meine ist. Aber ich bin stärker. Und das macht mich sehr stolz…