Hurricane 2005

Von unserem Mitarbeiter Ingo Lehmann (26.06.2005 13:56)

Schon beim Beladen des Autos am Freitag Morgen spürten wir die vorherrschende „Schafskälte“, die sich über die drei Festivaltage vom 10. bis 12. Juni 2005 in Scheeßel erstrecken sollte. Das meist feuchte Wechselwetter mussten dieses Jahr über 50.000 Musikwütige ertragen, bekamen im Gegenzug aber hervorragende Live-Perfomances von zahlreichen großen Bands geboten.

Nachdem wir die Autofahrkunst von einem Festivalbesucher („Ich habe nicht in den Rückspiegel geschaut….“) am eigenen Leibe bzw. Auto erfahren durften, ging es endlich los in Richtung Festivalgelände, wo schon die Dresden Dolls ihren Artpop vortrugen. Nur von einer Sängerin, die gleichzeitig ein Piano bediente, und einem Drummer wurden herausragende Kompositionen mit meist dynamischen Aufbau ergreifend vorgetragen.
Das Festival bot zwei Bühnen unterschiedlicher Größe, die sich leider auch beträchtlich vom Sound unterschieden. The Stands spielten auf der kleineren der Bühnen, überzeugten aber durch britisch angehauchte Melodien, lange Solos und einer gepflegten Prise Rock’n’Roll im Blut. Boysetsfire und Kettcar, mit Emo-Hardcore bzw. Hamburger Schule Pop, erreichten uns nur aus der Ferne, wurden aber von den Fans gut abgefeiert. Als nächstes rockten Turbonegro ohne Ende über das Festivalgelände. Unterstützt von zahlreichen Hardcorefans wurde Rotz-Rock’n’Roll vom Feinsten geboten.

Festival in Scheeßel

Einer der von mir favorisierten Acts, Richard Ashcroft, hatte leider abgesagt, weshalb man sich als nächstes Trent Reznors Nine Inch Nails widmete, dem ersten echten Hauptact des Festivals. Der Industrial-Gott heizte dem Publikum mit altbewährten, aber auch nagelneuen Songs ein. So gab er mit seiner Combo beispielsweise den Hit „The Hand That Feeds“ aus dem neuen Album zum Besten. Aber besonders Songs wie „Closer“ oder das ungewöhnlich ruhige „Hurt“ aus dem Erfolgsalbum „The Downward Spiral“ brachten die Fans zum Toben. Im Gegensatz zu früheren Auftritten verzichtete Reznor dieses Mal jedoch auf eine ausgedehnte Gitarren-Zertrümmerungs-Einlage und auch seine Bandmitglieder blieben weitgehend unverletzt.

Mit „Wir sind Helden“ spielte eine Band, auf die sich augenscheinlich die meisten Festivalbesucher einigen konnten. So gab es hier so gut wie kein Durchkommen auf dem Gelände Nahe Bühne. Hier merkte man auch überdeutlich, dass dieses Jahr 10.000 Fans mehr auf das Festivalgelände gelassen wurde. Aber Hits wie „Nur ein Wort“ oder „Denkmal“ besänftigten das laut mitsingende Publikum und eine wie immer sympathische Band erledigte den Rest. Die Helden sind und bleiben eine Ausnahme- erscheinung für die deutsche Musik im allgemeinen und waren auch am 8. Juni in Calden live zu erleben.
Rammstein brachten wieder die Härte zurück. Die Brachial-Rocker boten wie gewohnt eine „heiße“ Bühnenschow, bei der an Pyrotechnik nicht gespart wurde. Die umstrittene Band hatte mit Songs wie „Rammstein“ und „Mein Teil“ für alle Festivalbesucher etwas zu bieten: Für die Fans einen Anlass zum Feiern und für die Kritiker einen Grund mehr, sie zu hassen.

Oasis betrieben ihr Handwerk im Anschluß sichtlich gelangweilt. Zwar wurden neben Songs der neuen – wieder besseren – Platte auch alle alten Hits inkl. „Wonderwall“ und „Live Forever“ gespielt, die Band wirkte aber auf dem Festival etwas deplaziert. Dies lag zum einen am schlechten Sound auf der „Zweitbühne“, sowie auch an der etwas geringen Fanunterstützung. Die meisten Besucher waren offensichtlich zu jung, um die ersten und größten Erfolge der Britpopper miterlebt zu haben. Desweiteren taten Oasis mit ihrer arroganten Art auch nicht viel, um neue Fans zu erlangen. Für mich war es dennoch ein gelungener Abschluss des ersten Festivaltages.

Am Samstag ließen wir uns von Flogging Molly so richtig aufwecken. Geboten wurde hier eine Mischung aus „Pogues“ und den „Sex Pistols“, also eine folkloristische „Abgehmucke“, die jeden munter machte. Sehr interessant wurde es dann bei den konfusen „Songs“ von Fantomas mit Metal-Noise-Rock vom Feinsten. Die Köpfe von diesem Allstarprojekt sind ganz klar Mike Patton sowie Dave Lombardo. Geboten werden wirre Songs und Soundfragmente, die es schaffen, wechselhafte Stimmungen im Sekundentakt entstehen zu lassen: Harmonie, Aggressivität, Bedrückung und Angst. Abgefahrene Synthiesounds werden durch virtuoses Drumming, abwechslungsreichen Gesang (selten clean) und an klassische Horrorsounds erinnernde Gitarren ergänzt, die perfekte Untermalung für einen Gruselfilmsoundtrack.

Die Beatsteaks aus der Hauptstadt lieferten wieder eine mitreißende Show. Aber was soll man über die Live-Qualitäten der Jungs sagen, was noch nicht gesagt wurde? Seht sie euch einfach selbst an und feiert mit! Chris Cornell (Ex- Soundgarden) und Audioslave von „Rage Against The Machine“ trumpften an diesem Abend vor allem mit den Hits Ihrer alten Bands auf und wurden dafür vom Publikum frenetisch abgefeiert. Aber auch die eigenen Songs zeigten, dass aus Audioslave eine echte Band geworden ist, was durch das hervorragende neue Album „Out Of Exile“ noch verstärkt wird. Groß! Für mich einer der Höhepunkte des Festivals. System Of A Down überzeugen im Anschluss auf der Hauptbühne mit ihrer bekannten Mischung aus Emocore, Numetal und klassischen Metalelementen.

Brendan Benson eröffnete für uns entspannend den Sonntagmorgen. Melodische Rocksongs zum Wohlfühlen im besten Sinne. Nicht zu unrecht musiziert Benson zusammen mit Jack White. Bei La Vela Puerca und Ska P wurde das Festival richtig tanzbar. Hier wurde bester Ska geboten, wobei Ska P durch Ihre anarchische Bühnenshow mit Friedensdemonsranten-niederprügelnden-Polizisten, dem Tod im Amerika-Dress und einem elektrischen Stuhl ebenfalls im Stars-and-Stripes-Look auffielen. Hier wurde gefeiert bis zum Umfallen. Für mich – der Höhepunkt des Festivals – war der Auftritt der melancholischen Artrocker von Madrugada. Hier wurde rockiges vom „Grit“ Album mit den eher düstereren Stücken der alten Alben, welche des öfteren mit Nick Caves früheren Werken verglichen werden, vermischt. Emotionaler kann Rockmusik nicht klingen.

Was fällt einem zuerst zu Beck ein? „Loser“, okay. Aber danach? Milchgesicht, genau! Und das, obwohl der Mann mittlerweile weit über 30 Jahre ist. Musikalisch gesehen hat sich der einst als „Nachfolger von Kurt Cobain“ gefeierte Amerikaner jedoch weiterentwickelt und überzeugt durch gute Rocksongs. Queens Of The Stone Age – mittlerweile ohne Foo Fighters-Frontmann Dave Grohl – präsentierten in einer soliden Darbietung einige Songs aus ihrem neuen Album. Aber natürlich bekamen die Zuschauer auch ältere „Hits“, wie „No One Knows“, um die Ohren geblasen.

Nun war es endlich soweit: Die Ärzte, ihrerseits „beste Band der Welt“ und Headliner des Festivals, kamen zum Zuge. Farin, Bela und Rod haben auch nach Jahren noch sichtlich Spaß an ihrer Musik, was sich schon zu Beginn des Auftritts zeigte. Wir verfolgten die Show von der Bühnenseite aus und waren so Zeugen, wie die Pop-Punk-Doktoren hinter noch geschlossenem Vorhang ihrer Späße trieben. Als sich der Vorhang endlich lüftete, waren die Massen von Fans, die sich schon eineinhalb Stunden vor dem Auftritt um die besten Plätze geprügelt hatten, nicht mehr zu halten. Tausende begeisterte Zuschauern grölten jeden einzelnen Song mit und bewiesen damit, dass Ärzte-Songs längst zum deutschen Liedgut gehören. Rod, Farin und Bela genossen diese Huldigung sichtlich und beherrschten wie immer souverän die Menschenmenge.

Jetzt aber schnell zum Auto und ab Richtung Süden. Ein glorreiches Festivalwochenende mit großen Bands endet hier. Jetzt wird es aber langsam Zeit sich Karten für das nächste Jahr zu besorgen, bevor das Festival wieder ausverkauft ist. Zu kritisieren gibt es in diesem Jahr nur das übervolle Festivalgelände, sowie das wieder einmal schlechte Wetter. Ein paar Menschen weniger, sowie eine Verschiebung des Festivals Richtung Juli könnten hier Wunder wirken. Ansonsten kann man von einem wieder einmal perfekt organisierten Rockfestival sprechen, was den „Ring“ in Sachen Qualität mittlerweile deutlich überholt hat. Auf ein Neues!