Von Marc Thiel (CD-Kritik)
Udo Lindenberg? Das ist doch der Schlagerfuzzi mit „Sonderzug nach Pankow“ und „Horizont“! Nein! Das ist er nicht! Und war er noch nie. Udo Lindenberg einen Schlagersänger zu nennen, käme etwa der Absurdität gleich, Daniel Cohn-Bendit als konservativen Politiker zu bezeichnen.
Jedoch: Mitte der achtziger Jahre, da gab’s mal so eine Zeit in Lindenbergs Schaffen… – doch fangen wir dort an, wo alles begann: in Gronau, Westfalen. Um genau zu sein, im Jahre 1946, am 17. Mai.
An diesem Tag wurde Udo seinen Eltern Hermine und Gustav (die später noch einmal zwei komplette Songzyklen ihres Sohnes bestimmen sollten) geboren.
Schnell wird ihm in seiner Kindheit das Schlagzeug zum „Verhängnis“. Mit zehn Jahren war er in seiner Straße schon als „das Wunderkind“ bekannt. Wenig später fängt es mit ersten Jazzbands an, bald verbringt Udo als Teenager fast ein ganzes Jahr als Trommler in Lybien und Frankreich.
In Hamburg, wo er als Seeman anheuern will, gestrandet, klinkt er sich schnell in die dortige Musikszene ein und findet Zugang zu Bands wie Inga Rumpfs „Atlantis“ (die später mit „Frumpy“ Berühmtheit und Anerkennung erlangen sollte), Klaus Doldingers „Passport“ (was nur wenige wissen: Lindenberg trommelt auf der legendären „Tatort“-Titelmelodie) und schließlich seinem ersten eigenen Projekt, der Jazzrock-Formation „Free Orbit“. Auf deren erstem und (leider) einzigem Album ist Lindenberg auch erstmals als Leadsänger zu hören.
Diese Erfahrung, auf einem Tonträger zu singen, veranlaßt ihn zur Aufnahme seiner ersten Solo-LP „Lindenberg“ – allerdings (noch) mit englischen Texten.
Mäßiger Erfolg und zwiespältige Kritiken lassen ihn ins Grübeln geraten, ob das mit den englischen Texten so das Richtige ist.
1972 erscheint dann das Album „Daumen im Wind“ – auf deutsch! Sehr psychedelische, teils siebenminütige Mischungen aus Songs und Soundcollagen bestimmen das musikalische Geschehen. Einzig „Hoch im Norden“ und „Good life city“ sind noch heute in seinem Live-Repertoire zu finden.
Der bundesweite Durchbruch vollzieht sich 1973 mit der Platte „Alles klar auf der Andrea Doria“ und der dazugehörigen Livepremiere des „legendären Panikorchesters“ in der Hamburger Musikhalle. Da Udo natürlich im Rampenlicht stehen wollte, wurde mit „Backi“ Backhausen (der Jahre später durch Bertram Engel ersetzt werden sollte) ein zusätzlicher Schlagzeuger engagiert. Schnell hat sich das Album über 100000mal verkauft.
Songs wie „Cello“ und „Wir wollen doch einfach nur zusammen sein (Mädchen aus Ost-Berlin)“ werden schnell zu Klassikern.
Die 1974 bzw. 1975 nachgelegten Platten „Ball Pompös“ und „Votan Wahnwitz“ untermauern den Erfolg und machen Lindenberg zum nationalen Superstar.
Da diese 3-CD-Box ein Karriereüberblick und kein Best-Of-Album sein will, sind die beiden letztgenannten Alben mit jeweils einem Song gnadenlos unterrepräsentiert. „Leider nur ein Vakuum“ oder „Honky Tonky Show“ fehlen hier. Auch vom 1976er Opus „Galaxo Gang“ findet sich mit dem recht unglücklich ausgewählten „Ich bin Rocker“ nur ein Song.
Zu dieser Zeit entdeckt Lindenberg die Sängerin Ulla Meinecke (die später in Edo Zanki einen weiteren Mentor findet). „Bis ans Ende der Welt“ (von der 1978 erscheinenden „Dröhnland Sinfonie“) schreiben sie zusammen.
Udo wird zum Gesamtkunstwerk und inszeniert sich auf Mammut-Tourneen unter Mithilfe von Regisseur Peter Zadek und Impresario Fritz Rau zunehmend selbst.
1983 dann der Wechsel von Teldec zur Plattenfirma Polygram, unter deren Lizens auch diese Box veröffentlicht wird. (Wahrscheinlich ist dies auch der Grund für die recht spärliche Beleuchtung der 70er Jahre).
Mit „Odyssee“ und dem Hit „Sonderzug nach Pankow“ macht Lindenberg wieder von sich reden und wird Mitte der 80er Jahre auch verstärkt politisch aktiv. An Erich Honecker schickt er die berühmte Lederjacke. Im Osten auftreten darf er trotzdem nicht.
Auch wenn Hits wie „Horizont“ oder „Ich lieb‘ Dich überhaupt nicht mehr“ darüber hinwegtäuschen, regiert auf Lindenbergs Veröffentlichungen Mitte der 80er (computer-)musikalische Belanglosigkeit. Warum auf dieser Box nicht „Sternenreise“, eine wunderschöne Ballade vom 1986er „Phönix“ enthalten ist, bleibt fragwürdig.
Textlich interessant ist das Album „Hermine“ (1988). Es enthält mehr oder minder gelungene Vertonungen von Texten, die u.a. aus der Feder von Weill und Tucholsky stammen. Sehr schön hier: „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner. Auch Marlene Dietrich wirkt kurz vor ihrem Tod noch an „Hermine“ mit.
1989/1990 erfüllt sich Lindenbers Traum von einem vereinten Deutschland. Er bekommt für „Beiträge zur Überwindung der deutschen Trennung“ das Bundesverdienstkreuz verliehen. Der grandiose Konzertmitschnitt „Live in Leipzig“ beweist, daß Udo – mittlerweile ohne Panik-Orchester – das rocken nicht verlernt hat.
Es folgen Alben von schwankender Qualität, u.a. die bewegende Hommage an seinen bereits 1971 verstorbenen Vater, „Gustav“ und das abstruse „Kosmos“ (1995).
1996 gibt es eine Reunion des Panik-Orchesters, das hörenswerte Rockalbum „Und ewig rauscht die Linde“ und eine ausgedehnte Tour durch die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz so „neuen“ Bundesländer. Für Verkaufszahlen sorgt ein Jahr später „Belcanto“, eine mit dem Babelsberger Filmorchester eingespielte Sammlung alter und neuer Lindenberg-Balladen. Die anschließende Tournee wird ein – zumindest finanzieller – Triumphzug.
Udo beginnt verstärkt zu malen und stellt seine Bilder auch in Weimar aus. Die 1998 eingespielte LP „Zeitmaschine“ bleibt aufgrund von penetranter Anbiederung an den musikalischen Zeitgeist (u.a. HipHop) Marginalie. Eric Clapton setzt dieses mit „Pilgrim“ im selben Jahr weitaus gekonnter um.
Im Frühjahr 2000 die große Überraschung: „Der Exzessor“ ist Lindenbergs bestes Album seit über 20 Jahren. Keine permanenten Stilwechsel mehr, sondern „Adult Rock“ vom feinsten. Den größten Anteil daran hat das Panikorchester, insbesondere Keyboarder, Songwriter und Produzent Jean-Jaques Kravetz.
Die anschließende Tour wird mitgeschnitten und Anfang 2001 als Doppel-CD veröffentlicht.
Für Lindenberg-Novizen ist diese Box nur eingeschränkt zu empfehlen, da sie, wie bereits bemerkt, seine fruchtbarste Schaffensperiode, nämlich die 70er Jahre, fast gänzlich ausspart. Die Retrospektive „Das Beste – Mit und ohne Hut (1973-82)“ bietet den besseren Einstieg.
Vielmehr ist sie für solche interessant, die ohnehin schon das meiste von Udo haben und ihre Sammlung mit einem halben Dutzend Raritäten (u.a. drei frühe Demos in englischer Sprache) komplettieren möchten.
Eine große Schwäche der Box offenbart sich auch hinsichtlich absoluter Abstinenz von Liveaufnahmen – und von Lindenberg gibt es viele gute Live-Platten, z.b. die 1979er Doppel-LP „Livehaftig“!
So bleibt „Das 1. Vermächtnis“ leider „nur“ ein guter Karriereüberblick.