(20.08.2001 22:50)
Giuseppe Verdi ist tot. Vor genau einhundert Jahren ist er gestorben. Ich lebe. Aus diesem Grund wird in Verona, in der „Arena di Verona“, „Aida“ aufgeführt. „Sollte man sich anschauen, außerdem ist es die Premiere!“ bemerkt meine Begleitung und deshalb fahren wir hin.
Unsere Reisebegleiterin heißt Nicolina und spricht fünf Sprachen, wie sie erklärt. Heute würde sie sich allerdings auf Englisch und Deutsch beschränken. Unser Fahrer heißt Ludger oder so ähnlich, da habe ich Nicolina nicht richtig verstanden. Er redet nicht sehr viel, ist auch klar, er muss uns schließlich nach Verona fahren.
Nicolina hat schulterlanges blondes Haar und ist ungefähr 45 Jahre alt. Wenn sie etwas erklärt, muss sie ihren Pony aus dem Gesicht streichen, damit sie uns hinter ihrer Brille erkennt. Sie muss dies recht oft tun, denn sie erzählt recht viel. Von der Liebe der Italiener zu Verdi und ihren Handys, von Gott, der es heute verhindern wird, dass es regnet und wie wir uns im Falle eines Wolkenbruchs verhalten sollten. Ich mag die Frau sofort, schaue jetzt aber trotzdem aus dem Fenster.
Wir fahren auf einer kleinen Nebenstraße am Weingebiet von Bardolino vorbei. Ich versuche, im blauen Himmel irgendwo eine Wolke zu erkennen. Es ist unglaublich heiß, wie bei einer „La-Ola-Welle“ gehen abwechselnd die Hände nach oben, um die Ventilatoren zu betätigen. Neben uns ziehen jetzt die typischen italienischen Häuser vorbei. Meist sind sie gelb mit grünen Fensterläden und der Putz ist sichtbar abgebröckelt. Um das Haus herum ist es grün vor Blumen und Bäumen. Kleine staubige Wege verbinden diese einzelnen, meist an einem leichten Gefälle stehenden Häuser, zu einem Gesamtbild.
Selten sieht man hier Menschen sitzen und durch das Reflektieren der Sonne von jeder erdenklichen Stelle wirkt alles sehr ruhig und leise. Würde Nicolina ihre Erklärungen nicht noch mal auf Deutsch wiederholen, könnte ich sogar die Stille hören. Ich muß daran denken, dass ich neidisch auf die Italiener bin, da sie ihre Häuser nicht renovieren. Mit Absicht, wie ich glaube, um zu zeigen, dass sie noch traditionelle Kunst und Geschichte haben. Sie erzählen auch dauernd davon: Von den Römern, den Arenen, die sie bauten, und von Romeo und Julia. Wir haben auch Geschichte, die fängt allerdings erst Ende der 30er Jahre an, ist optisch zerstört und ideell nicht zu vertreten.
In Verona angekommen zündet sich meine Begleitung eine „Gauloises Blondes“ an, das beruhigt. Ich kaufe mir ein Eis. Die Arena selber ist riesig und Beeindruckend. Tausende Steinbögen, lateinische Inschriften und halb verfallene Ruinen. Ich muss an meine Zeit im Lateinunterricht denken. Dort haben wir so oft diese Gebäude in Büchern angeschaut und obskure Caesar-Dialoge mit irgendeinem Philosophen übersetzen müssen. Heute könnte ich mir wahrscheinlich noch nicht einmal ein Wasser auf Latein bestellen. Ich suche unauffällig in diesem Gewühl meine Lateinlehrerin und bin mir fast sicher, dass sie auch hier ist.
Von innen wirkt es wie ein Fußballstadion aus Stein; die Plätze sind große Stufen, die sich bis zum Boden ziehen, von wo die bestuhlten weinroten Stuhlreihen beginnen. Wir sitzen ganz oben, kurz unter den vier großen Steinbögen, die von der höchsten, aber zerstörten Etage, der Arena zurückgeblieben sind.
Während wir unsere Plätze einnehmen, wie die restlichen 22.000 Suchenden auch, laufen unentwegt Verkäufer durch die Reihen, die alle 5-Sekunden ihre Waren anpreisen. Die italienischen Verkäufer haben alle kurze oder zum Zopf gebundene braune Haare und dunkle warme Augen. Die Frauen sind entweder blond und wunderschön, schwarzhaarig oder sie sehen aus wie in Monserat Caballe („La Mama“). Noch eins fällt auf: Die Italiener sind alle gut angezogen. Dabei meine ich nicht edel, sondern stilvoll. Touristen bräuchten sich gar nicht dadurch zu outen, dass sie übertrieben teure Getränke kaufen oder die ebenfalls roten Sitzkissen verlangen, man sieht es einfach.
Italiener haben meistens dunkle Farben an. Das klassische blaue Hemd, eine schwarze Stoffhose und immer hübsche schwarze Lederschuhe. Ich würde mal behaupten, dass selbst der am schlechtesten angezogene Einheimische besser angezogen ist, als jeder Tourist an diesem Abend.
Die verwechseln Urlaub scheinbar immer noch mit einer Berechtigung zur Geschmacklosigkeit. Ich selber trage ein kurzärmeliges Nadelstreifenhemd, es ist wie erwähnt sehr warm, und meine einzige noch knitterfreie Hose. Dazu schwarze Lederschuhe.
Ich kaufe mir ein „Programme Libretto“, weil ich Angst habe nichts zu verstehen. Gegen viertel nach Neun erhebt sich das Orchester aus seinem „Graben“ und das Publikum begrüßt den Dirigenten. Die Streicher beginnen. „Aida“ kommt. Vier Akte lang. Das Bühnenbild und die Kostüme sind komplett in blau gehalten. Ich würde es wie das Blau der „Gauloises Blondes“-Packung meiner Begleitung beschreiben, doch dies wäre unpassend, da sie sich in der Tasche befinden. Es herrscht Rauchverbot. Kurz nachdem es dunkel geworden ist, entzünden tausende Zuschauer kleine Kerzen, die am Eingang auslagen und auch ich reflexmäßig eingesteckt habe.
Ich schaue mich also um, und tausende Lichter glühen in der Arena, im warmen Verona, auf der Bühne besingt „Aida“ ihre große Liebe „Radames“. Mir wird klar, dass wir alle ein Teil dieser Inszenierung sind.
Dieses Stück lebt nicht vom Inhalt, den eh jeder kennt, sondern von dieser großen honigartigen Selbstinszenierung. Man könnte auf der Bühne auch lateinisch oder chinesisch singen. Der Mond steht nun genau über der Arena und leuchtet hell. Dies wäre ein schönes Bild, wenn mir nicht jemand mal erzählt hätte, dass es in Verona immer aussieht als wenn der Mond direkt über einem scheinen würde. Ich verwerfe dieses Bild.
In der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt bittet mich eine Frau hinter mir ihre Dose Cola zu öffnen. Sie ist deutsch, doch sie fragt mich auf Englisch. Wahrscheinlich bin ich zu gut angezogen.
Mitten im dritten Akt wird dann geschossen. Außerhalb der Arena werden Kanonen geladen und Raketen abgefeuert. Es hört sich an, als ob Verona den Krieg eröffnet hätte, zum Beispiel gegen Verdi-Liebhaber. Dieses von der Stadt zu einem anderen Anlass organisierte Feuerwerk stört etwas die Stimmung und während einer Solistenpause rufen auch einige Zuschauer „Buh“ und pfeifen.
Überhaupt sind die Italiener sehr emotional und rufen viel „Bravo“ und „Supperissimo“, zwischen den einzelnen Stücken. Am Ende liegt „Aida“ auf dem Boden und ist tot, die Menschen um mich herum stehen auf und klatschen. Die Zuschauer im Inneren der Arena bleiben auf ihren Stühlen sitzen, für die haben sie auch viel Geld bezahlt. Langsam drängen wir uns aus der Arena. Eine weibliche Stimme bedankt sich äußerst sexy in fünf Sprachen für die Teilnahme am 79 Festival 2001 der „Fondazione Arena di Verona“. Meine Begleitung zündet sich eine „Gauloises Blondes“ an. Ich bediene das letzte Klischee und kaufe mir ein Stück Pizza.
Am Treffpunkt wartet schon Nicolina, die leider nur die ersten beiden Akte sehen konnte. Unser neuer Fahrer heißt Fabio, und er redet nicht viel.
Ich lebe. Es ist halb Eins. „Tutto e finito“.