«Nicht fair, aber das Leben ist schließlich keine Honigmelone»

(16.11.2001 18:41)

Die Stoppuhr tickt gnadenlos: Nur noch wenige Sekunden bleiben Tobias Ergenzinger, um seinen Text dem Publikum vorzutragen. Die Stoppuhr tickt gnadenlos: Nur noch wenige Sekunden bleiben Tobias Ergenzinger, um seinen Text dem Publikum vorzutragen. Seine Stimme überschlägt sich, wird immer lauter, fest umklammern seine Hände das Mikrofon, doch die beiden Moderatoren mit Stoppuhren in den Händen treten immer näher an ihn heran. Eine Minute länger als erlaubt präsentierte sich der Freiburger am Donnerstagabend beim 5. German International Poetry Slam in der Hamburger Markthalle – die Jury zieht ihm dafür einen Punkt ab und erntet Applaus und Buh-Rufe dafür. Laut und leidenschaftlich geht es bei der «Literatur-Olympiade» zu, die Hamburg noch bis Samstag zur «Slamburg» macht.

Rund 150 Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gehen an den Start, um die Sieger im Einzel- und im Team-Wettbewerb zu küren. Erlaubt ist, was gefällt – Hauptsache die Texte sind selbst verfasst, dauern nicht länger als fünf Minuten, und die Teilnehmer kommen ohne Requisiten oder Musik aus. Der jüngste Autor ist 17 Jahre alt, die älteste wurde gerade 64. Vor jeder Runde wird aus dem Publikum eine Jury bestimmt, die dann mit Wertungen zwischen 0 (schlecht) und 10 (ausgezeichnet) über strahlende Sieger und zerknirschte Verlierer entscheidet. «Das ist hart und auch nicht fair, aber das Leben ist schließlich keine Honigmelone», meinen die Veranstalter.

Seit Ende der 80er Jahre entwickelte sich das «Slamen» in den USA zu einer eigenständigen Form, Mitte der 90er Jahre griff die Bewegung auf Europa über. Hochburg ist der deutschsprachige Raum, wo inzwischen in rund 30 Städten «geslamt» wird. «Das ist einfach Literatur zum Anfassen, es gibt viel Interaktion zwischen Dichter und Publikum», erklärt Tina Uebel, eine der Organisatoren des literarischen Events. Seit einigen Jahren lädt die Hamburger Autorin gemeinsam mit anderen monatlich zu «Hamburg is Slamburg» ein. «Da kann jeder kommen und sich auf unserer Bühne präsentieren. Tolle Dichter sind ebenso dabei wie Leute, die echt schlecht sind und ihre alte Hochzeitsrede vortragen.»

Das Poetry Slam-Wettlesen wurde von dem ehemaligen Bauarbeiter Marc Smith in Chicago entwickelt, der herkömmliche Dichterlesungen einfach langweilig fand. «Egal ob gut oder schlecht, nach fünf Minuten ist für jeden Teilnehmer Schluss. Und bei einem offenen Slam gehört einfach alles dazu», sagt Uebel. Das Grundprinzip sei überall das gleiche, aber regionale Unterschiede zwischen den einzelnen Dichter-Wettkämpfen gebe es dennoch. «Manche bevorzugen beispielsweise Lyrik, andere Prosa.» Beim German Poetry Slam sei aber eines gesichert: «Hier sind nur die Guten, die sich über Vorentscheide qualifiziert haben.»

Sibylle Aeberli und Sandra Künzi aus der Schweiz erleben in Hamburg ihre Premiere. «Ich liebe am Slam das Schnelle und Direkte, man muss gleich von der ersten Sekunde an gut sei», sagt Sandra. «Volle Konzentration ist gefordert», ergänzt Sibylle. Wichtig sei beiden auch, das man sofort die Bewertung für seinen Vortrag erhält. Da ist das Publikum dann auch oft mal anderer Meinung als die Jury. Begeistert applaudieren die Zuschauer etwa nach Hartmut Landauers «Zu Tisch mit Ulrike Meinhof», doch die Noten der Juroren lagen zwischen 4,5 und 8,2.