Von unserem Redakteur Christian Heine (27.01.2005 01:02)
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz- Birkenau. Gerade dieses KZ war ein Symbol für den grausamen Vernichtungsapparat der Nazi-Diktatur. Heute, 60 Jahre später, ist in Deutschland ein neu aufkommender antisemitischer Neofaschismus, getragen von der rechtsextremen NPD, zu spüren. Doch wie kann man gegen diese Bedrohung vorgehen? UMLAUF Online führte dazu ein Interview mit Herrn Dr. Schneider vom VVN-BdA Kassel.
UO: Herr Dr. Schneider, Sie sind Vorstandsmitglied der VVN-BdA Kassel. Können Sie unseren Lesern erklären, wofür die Abkürzung VVN-BdA steht und welche Personengruppen sich dort engagieren?
Dr. Schneider: Bei der VVN-BdA handelt es sich um die Vereinigung der Verfolgten des Naziregime – Bund der Antifaschisten und Antifaschistinnen. Sie ist 1947 gegründet worden. Natürlich bin ich noch nicht solange dabei!
Unsere Zeitung ist die ANTIFA, das Magazin für antifaschistische Politik und Kultur. Sie erscheint alle zwei Monate und bearbeitet die Themenbereiche Neofaschismus, geschichtliche Themen der Nazizeit, aber auch die politische Entwicklung in der Bundesrepublik.
UO: Was sind denn die Schwerpunkte und Ziele des VVN-BdA und welche Möglichkeiten und Mittel sehen Sie, diese Ziele durchzusetzen?
Dr. Schneider: Wir stehen in der Tradition derer, die aus den Konzentrationslagern entkommen sind und die sich gemeinsam für einen antifaschistischen Neuanfang eingesetzt haben. Wir sehen darin eine politische Aufgabe, da wir überlegen, was von den Forderungen der Überlebenden des Nazi-Regimes aktuell geblieben ist. Wir beziehen uns auch auf den Schwur der Buchenwalder, das heißt: Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln und Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit.
Wenn wir das auf die heutige Zeit beziehen, denken wir natürlich sofort an Sachsen und diese geschmacklosen Provokationen der Nazis im sächsischen Landtag. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Nazismus mit seinen Wurzeln in Deutschland noch nicht beseitigt ist, eben in der Form des Neofaschismus. Wenn man fragt, was die VVN-BdA heute macht, dann werden wir häufiger auf der Straße zu finden sein, als in geschlossenen Räumen, da wir zu denen stehen, die sich gegen Nazi-Aufmärsche engagieren. Wir haben zusammen mit der IG Metall und der Zeitschrift „Der rechte Rand“ die sehr erfolgreiche Ausstellung ?Neofaschismus in der Bundesrepublik Deutschland“ geschaffen. Diese Ausstellung gibt es jetzt in der dritten Auflage und sie gastierte eine lange Zeit im VW-Werk Baunatal. Diese Ausstellung zählte mehr als 130000 Besucher. Wir gehen damit auch in die Schulen und Jugendzentren , um auf diese Gefahren aufmerksam zu machen.
UO: Um noch einmal auf die Tradition zurück zu kommen. Gibt es noch Mitglieder der VVN-BdA hier in Kassel, die die NS-Zeit aktiv miterlebt haben?
Dr. Schneider: In Kassel gibt es keine ehemaligen KZ-Häftlinge in der VVN mehr, der letzte ist vor drei Jahren gestorben. Doch im Bundesvorstand gibt es noch einige Mitglieder, die die Nazizeit meist als Jugendliche miterlebt haben und auch selbst die Verfolgung in ihren Familien erlebt haben. Diese Jugendlichen stammten überwiegend aus Arbeiterfamilien und haben sich bewusst gegen das Nazi-Regime gestellt. Ein prominentes Mitglied dieser Zeit ist Peter Gingold . Er ist gebürtiger Frankfurter, der als Jude verfolgt wurde und nach Frankreich emigrierte und dort als Resistance-Kämpfer tätig war. Nachdem Frankreich dann befreit worden war, ging er nach Turin in Italien um an der Seite der Partisanen gegen die Faschisten zu kämpfen.
UO: In der Nachkriegszeit gab es häufig Konflikte mit der Regierung Adenauer. Warum eigentlich? Und wie sind Ihre Kontakte zu den Parteien, Gewerkschaften wie der IG Metall und anderen Massenorganisationen?
Dr. Schneider: Pauschal gesagt: Es herrschte der Kalte Krieg!
In der VVN bestand damals vermehrt aus Kommunisten, Sozialisten und Sozial-demokraten. Doch die Kommunisten in der VVN wurden von der Regierung beschuldigt, Interessen des Ostblocks zu vertreten oder Agenten der DDR zu sein. Wir erinnern uns an das KPD-Verbot in 1956. Genau so ein Verbotsverfahren wurde auch der VVN angehängt. Doch obwohl das Verfahren scheiterte, wurde der VVN immer wieder vorgeworfen, eine kommunistische Tarnorganisation zu sein. Das hat sich erst in den 60er Jahren gelegt, als auch vermehrt verfolgte Christen der VVN beitraten. Auch die Gewerkschaften überlegten sich bei ihrer Gründung 1946, ob sie mit der VVN zusammen arbeiten wollen. Heute sind viele Gewerkschaftsmitglieder bis in die Führungsebene auch Mitglieder der VVN.
UO: Bereits in den 70er Jahren scheiterten viele NS- Prozesse an der mangelnden Prozess- und Haftfähigkeit der Angeklagten. Die meisten dieser Angeklagten sind nun verstorben. Da Täter und Opfer ungefähr gleichen Alters waren, stellt sich doch die Frage einer Umbenennung Ihrer Vereinigung.
Dr. Schneider: Natürlich stellt sich die Frage, ob der Name VVN noch aktuell ist.Die heutige Generation will nicht, dass das Nazi-Regime noch einmal an die Macht kommt. Wir haben den Namen in 1972 um den Ausdruck „Bund der Antifaschisten und Antifaschistinnen“ erweitert. Allerdings stehen wir in der Tradition der Verfolgten und unser Verständnis von Antifaschismus geht aus dem Schwur der Buchenwalder hervor. In sofern unterscheiden wir uns von anderen, zum Teil autonomen Antifaschisten, wie der ANTIFA ev.
UO: 60 Jahre sind eine lange Zeit. Gerät die Nazi-Diktatur und die Massenvernichtung bei Jugendlichen nicht allmählich in Vergessenheit? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Dr. Schneider: Sie gerät auf keinen Fall in Vergessenheit. Leider sind die meisten Schüler wenig an Geschichte interessiert. Deshalb ist es eine Herausforderung für die Schulen, auch für junge Leute einen Zugang zu diesem Thema zu eröffnen und von dem pauschalen? Ach, das war ja alles so schrecklich!“ weg zu kommen.
Wir sollten uns fragen, was der Umgang mit Geschichte bei den Jugendlichen bewirken soll. In dem Moment, wo es gelingt, dass sich junge Leute mit dem Faschismus auseinandersetzen und besonders mit dem Widerstand gegen den Faschismus als Option des Handelns, dann merken sie, dass dies auch eine Perspektive für die eigene Identitätsfindung ist. Dann finden sie Zugang zu diesem historischen Thema, auch nach 60 Jahren. Der Umgang mit diesem Thema darf nicht der erhobene pädagogische Zeigefinger sein. Die Frage muss lauten: Was bedeuten Faschismus und Widerstand heute für mich – für meine Generation und für künftige Generationen?
UO: Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. Schneider