Rede der Schülerin Constanze Krieg

dpa-Meldung vom 3. Mai 2002 (04.05.2002 01:38)

Bei der Trauerfeier für die Opfer des Schulmassakers von Erfurt hat die Schülerin Constanze Krieg stellvertretend für alle Schüler des Gutenberg-Gymnasiums eine Rede gehalten. Wir dokumentieren diese Rede:

Trauerfeier in Erfurt, Quelle
(t-online vom 3.5.2002)

«Ich möchte stellvertretend für alle Schüler unseres Gymnasiums einige Worte an Sie richten. Vor allem aber sind diese Worte für die Schüler, die Lehrer, die Angehörigen der Opfer und die gesamten Hilfskräfte. Unsere Schule war einmal von einer sehr familiären Atmosphäre geprägt – und das soll sie auch wieder werden.

Wenn man die Schule betrat, dann fühlte man die Geborgenheit wie in einem zweiten Zuhause. Unsere Lehrer sind nicht bloß Pädagogen für uns gewesen, sondern auch Vertraute und auf eine gewisse Art und Weise auch Freunde. Sie hatten viel Verständnis für uns, sorgten sich um uns, wenn es uns mal nicht so gut ging, waren immer für uns da, wenn wir ein Problem hatten. Auch über den Unterricht hinaus redeten Sie mit uns und waren für Diskussionen offen.

Constanze Krieg
(Quelle: t-online vom 3.5.2002)

Diese Menschen gaben uns Ratschläge für unseren Lebensweg und führten uns in vielen Hinsichten durch unser Leben. Sie haben uns geprägt und dazu beigetragen, dass wir die Menschen geworden sind, die wir heute sind.

Unsere Gedanken sind bei den Opfern und sie werden uns immer unglaublich fehlen. Und es kommt mir manchmal so vor, als wären sie noch da. Ich laufe durch die Straßen Erfurts und sehe Menschen, von denen ich glaube, das ist ein Lehrer von unserer Schule, der ist noch gar nicht tot. Aber beim zweiten Blick stelle ich fest, das ist kein Lehrer, sondern ein anderer Mensch.

Trauer an der Goetheschule

In unseren Herzen ist eine Leere eingetreten und sie sind erfüllt mit tiefer Trauer um die Opfer des vergangenen Freitags. Die Angehörigen der Opfer haben unser aller Beileid, aber auch unser tiefes Mitgefühl, unseren Beistand und unsere Unterstützung. Diese Lehrer werden für uns immer eine ganz besondere Rolle spielen, und ihre ganz eigene Art macht sie für uns zu etwas ganz Besonderem.

Wir werden sie bis in Ewigkeit in unseren Herzen tragen. Jeder von ihnen war einmalig, und solche Menschen finden nicht Ihresgleichen. Das gilt natürlich auch für die Schüler, die Sekretärin und den Polizisten. Wir möchten auf diesem Weg auch den Lehrern danken, denen wir heute noch um den Hals fallen können. Sie haben uns auf der Flucht über den Zaun geholfen, vor ihrer Klasse Stärke und Ruhe zeigen müssen, obwohl sie innerlich gezittert haben. Und sie sind jetzt noch für uns da.

Die Trauer loswerden

Wir danken allen, die uns am Freitag aus dieser grausamen Situation rausgeholfen haben und sofort zur Stelle waren. Den Polizisten, die ihr Leben für uns riskiert haben, den technischen Hilfskräften, den Sanitätern, Ärzten und Psychologen, die sich auch um unsere Angehörigen kümmerten. Aber auch in den darauf folgenden Tagen waren viele Menschen im Rathaus an unserer Seite. Besonders unsere Eltern, unsere Lehrer, die Psychologen, die in unseren Klassen
waren, die Mitarbeiter des Rathauses, insbesondere auch der Oberbürgermeister, Herr (Manfred) Ruge.

Zu guter Letzt möchten wir auch (der Schuldirektorin) Frau Alt danken, für ihre Stärke, die sie in den letzten Tagen zeigte. Sie hat die Schule zu dem gemacht, was sie war und wieder werden wird. Ich bewundere sie, mit welcher Kraft sie das in den letzten Tagen alles gemeistert hat. Diese Kraft möchte ich auch allen anderen wünschen, den Angehörigen, den Lehrern, dass sie die Erlebnisse verarbeiten können und sich nicht davon entmutigen lassen.

Trauer an der Goetheschule

Zum Abschluss möchte ich Ihnen noch ein Gedicht von Ulrich Schaffer vortragen: «Niemand hat Deine Fingerabdrücke. Niemand hat Deine Stimme. Niemand sagt so „Ich liebe Dich“ wie Du, niemand glaubt wie Du. Niemand denkt so ans Sterben wie Du. Niemand hat Deine Geschichte. Niemand spürt die gleiche Trauer, das gleiche Glück wie Du. Niemand ist wie Du. Niemand in Deinem Land, auf Deinem Kontinent, auf dem dritten Planeten dieses Sonnensystems, in der Galaxie, die wir die Milchstraße nennen. Niemand. Weil Du einmalig bist.»