„Die besseren Sozialarbeiter“ 

Immer wieder verlassen Jugendliche Deutschland, um in Syrien oder im Irak für den IS zu kämpfen. Wie kommt es zu dieser häufig rasanten Radikalisierung? Was muss passieren, damit sich innerhalb weniger Monate Einstellungen, Verhalten und Erscheinungsbild vollkommen verändern? Um sich möglichen Antworten zumindest anzunähern und Präventionsstrategien zu erläutern, veranstalten immer mehr Schulen in den letzten Jahren Workshops und Fortbildungen, die über Risiken, Ursachen und Anzeichen von Radikalisierung aufklären sollen. Bei einer Podiumsdiskussion mit anschließender Fortbildung bei uns am Goethe-Gymnasium waren wir Anfang Mai dabei.

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Ahmad Mansour und Dr. Marwan Abou-Taam leiten die Veranstaltung, an der Lehrer und Lehrerinnen aus ganz Hessen teilnehmen. Die Aula ist voll, nebenan warten Kaffee und Kuchen . Bei diesem Wetter drinnen zu sein, das sei „per Definition Terrorismus“, scherzt Mansour, bevor er seinen Vortrag beginnt. Er erklärt, dass religiöser Extremismus häufig gleichgesetzt werde mit Islamismus: „Wenn man sich mit religiös motiviertem Terrorismus beschäftigt, wird man Islamwissenschaftler.“
Dabei gebe es in Deutschland kein gesetzliches Problem mit dem Islam: „In Deutschland kann man den Islam freier leben als in allen islamischen Staaten der Welt“. Probleme, mit denen Muslime in Deutschland Tag für Tag kämpften, entsprängen stattdessen eher den Bereichen der Bildung, der Arbeit und des Wohnens. Regionale Probleme also, die in den Gemeinden vor Ort angegangen werden müssten.

Da aber im Islam keine klare hierarchische Struktur wie besipielsweise im Katholizismus durch den Papst bestehe, sei oft unklar, an wen sich Politiker in Islamfragen wenden sollten. Der Versuch, Probleme auf struktureller oder nationaler Ebene zu beheben, scheitere daher. 

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Herr Mansour während des Vortrags

Warum radikalisieren sich muslimische Jugendliche in Deutschland? Aus psychologischer Sicht seien häufig Stressfaktoren die Ursache, die nicht durch gängige Bewältigungsstrategien gelöst werden könnten. Das könnten schulische, soziale oder finanzielle Probleme sein; wenn nicht der richtige familiäre Rahmen gegeben sei – z.B. durch eine nicht vorhandene Vaterfigur – dann wendeten sich Jugendliche eher radikalen Gruppen zu. Das bedeute nicht, dass jeder Alleinerziehende einen potenziellen Islamisten großziehe, aber diese Jugendliche seien häufig anfälliger für die Rekrutierungsstrategien extremistischer Gruppen. „Die Radikalen sind die besseren Sozialarbeiter“, erklärt Herr Abou-Kaan, denn solche Gruppen seien häufig geschickt darin, Jugendkultur und soziale Medien zu instrumentalisieren, um für ihre Zwecke Werbung zu betreiben.

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Deutlich werde dies z.B. bei Facebookseiten, die antisemitische Verschwörungstheorien verbreiteten und häufig tausende Follower besäßen. Hinzu komme, dass Jugendliche sich durch die Zuwendung zur Radikalität oft Aufmerksamkeit erhofften, die ihnen sonst nicht gewährt werde. Plötzlich entstehe ein „Machtgefühl“, welches so im Alltag nie vorhanden sei.
Herr Abou-Kaan betont, dass die Radikalisierung allerdings auch ideologische Ursachen besitze: Zum einen die strenge, häufig wörtliche Auslegung des Korans, die er die „Diktatur des Textes“ nennt, zum anderen der häufig patriarchalische Aufbau muslimischer Gemeinden und Familien führten zu Spannnungen, aufgrund derer sich manche muslimische Jugendliche von der Mehrheitsgesellschaft abwendeten.
Woran können aber Lehrer, Freunde und Familie erkennen, ob eine Entwicklung hin zur Radikalität besteht? Kleidung und äußeres Erscheinungsbild seien nicht zwangsläufig ein Indiz, so die beiden Referenten. Hellhörig sollten Lehrkräfte dagegen werden, wenn sie „Missionierungsversuche“ beobachten, wenn betroffene Jugendliche also versuchen, andere von ihrer Ideologie zu überzeugen.

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links Herr Mansour, rechts Herr Abou-Taam

Auch ein verändertes Verhalten zum anderen Geschlecht sei charakteristisch: Wenn Schüler sich plötzlich weigern, neben Mädchen zu sitzen oder mit ihnen zu sprechen, sollte in jedem Fall das Gespräch gesucht werden. Wenn der Alltag der Jugendlichen fast ausschließlich von der Religion bestimmt wird, Hobbys und Schule vernachlässigt werden, sollten Lehrkräfte versuchen, ein Gespräch mit den Eltern, der Schulleitung oder auch einer Beratungsstelle für religiösen Extremismus zu vereinbaren. Auch wenn diese Anzeichen nicht zwangsläufig auf eine Radikalsierung hindeuten müssen, so sollten sie dennoch nicht ignoriert werden. 

Ein spannender Nachmittag, viele interessante Informationen – und bei vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern kam das Ende doch gefühlt plötzlich, da es zu diesem Thema anscheinende endlos viele Fragen gibt. 

Eindrücke von der Veranstaltung seht ihr in unserer Bilderstrecke unten.