Gottes kleine Faust – Kapitel 11: Spinnen

Nach dem Kaffee – und vor allem nach der Torte bei den Wagners – waren Anna und Angie zu satt, um noch gemeinsam zu trainieren. Außerdem war es viel zu spät geworden. Sie verabredeten sich noch für den nächsten Tag, dann machte sich Angie auf den Heimweg.

Die kühle Abendluft tat ihr gut. Auch die Torte hatte ihr wohl getan. Sie fühlte sich wieder ganz wie die „alte“ Angie, als sie in die Pedalen nach Hause trat. Unterwegs begegnete ihr niemand. So konnte sie ungestört ihren Gedanken nachgehen.

Alles in allem war es ein toller Nachmittag gewesen. Das Treffen mit Matthias und Thomas war so unwirklich wie wunderbar gewesen und als sie mit Anna den beiden auch „biblisch“ auf den Fersen war, da hatte sie sich wirklich gut gefühlt. Wie ein Detektiv! Vom Gefühl ein Engel zu sein, war sie weit weg gewesen. Erst als die Spinne plötzlich aufgetaucht war, hatte sie einen völlig neuen Reflex gespürt. Ob das eine ganz neue Seite in ihr war, die jetzt erst zum Vorschein kam?

Jedenfalls fühlte sie sich immer noch merkwürdig, wenn sie an die Spinne, ja wenn sie überhaupt an Spinnen dachte. Das war ihr noch nie so gegangen. Mutter hatte sich immer gewundert, dass Angie sich nie vor Spinnen gefürchtet hatte. Nicht einmal, als sie noch sehr viel jünger war. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, da hatte Angie eine Sammlung lebender Spinnen gehabt! In einem kleinen Schuhkarton, den sie mit etwas Grünzeug gefüllt und in den sie Luftschlitze geschnitten hatte, hielt sie eine Zeitlang bis zu 100 Spinnen.
Manchmal war ihr eine weggelaufen. Aber dann hatte sie sich immer wieder schnell neue besorgt. Ihre Mama hatte fast der Schlag getroffen, als sie den Karton beim Wischen unter Angies Bett gefunden hatte. Die größten Spinnen ihrer Sammlung waren immerhin so groß wie eine Kinderhand und Frau Mertens war sich nicht sicher, ob sie beißen konnten und wenn ja, wie weh es tat.

Natürlich war dieser Vorfall das Ende der Sammlung im Kinderzimmer gewesen. Die Mutter hatte zum ersten Mal einen Schreianfall bekommen und Angies Papa musste die Spinnen „weit, weit wegbringen“ , wie die Mutter immer wieder geschrien hatte. Angie hatte auch nicht die Spur einer Chance auf das Behalten ihrer Sammlung gehabt. Aber ihr Papa war sehr lieb gewesen. Er hatte die Spinnen nicht – wie die Mutter verlangt hatte – „umgebracht“. Das hätte er seiner Tochter auch gar nicht antun können. Gemeinsam mit Angie brachten sie die Kiste in den Wald, wo die Spinnen zwischen Moos und Bäumen und zwischen den vielen kleinen Felsen und Spalten ein neues Zuhause fanden.

Als sich Frau Faust wieder beruhigt hatte, war Angie auf die Idee mit dem Tattoo gekommen. Aber natürlich hatte Angies Mama auch davon nichts wissen wollen. Und diesmal stimmte Herr Mertens seiner Frau uneingeschränkt zu. Als Arzt und Mediziner wusste er nur zu gut, dass Tattoos vielleicht schick, in jedem Fall aber ungesund für die Haut waren. So kamen er und Angie auf die Idee, das geplante „Tattoo“ auf die Jeans zu malen. Angie fand das irgendwie cool. Da konnte es jeder und zu jeder Zeit sehen und nicht nur dann, wenn sie Schwimmen oder Baden war. Und eine Edelzeichnung wie die von Frau Faust künstlerischer Hand – die Mutter hatte ihren ganzen Mut aufbringen müssen – hatte ja auch nicht jeder auf seiner Jeans. So war die Jeans mit der Spinne ihre Lieblings-Jeans geworden.

 

Angie trug jetzt Leggins. Die war für diese Uhrzeit schon ein bisschen frisch auf dem Fahrrad. Weil sie sich aber erst mit Matthias treffen und dann gleich mit Anna zum Laufen gehen wollte, hatte sie sich für etwas Sportlicheres entschieden. Nun aber, wo sie auf dem Weg nach Hause war, kam ihr die Hose in den Sinn. Ob sie die Jeans noch wie immer tragen könnte? Als wäre nichts passiert? Angie wusste es nicht und schon dass irritierte sie. So etwas hatte sie auch noch nicht erlebt. Dass sie einmal Angst haben könnte, ihre Lieblingshose zu tragen…

Im Hause Faust war schon Licht. Ihre Mama war wahrscheinlich den ganzen Tag über im Atelier gewesen. Aber dass Papa schon zurück aus der Klinik war, erstaunte Angie. Natürlich freute es sie. Nach so einem aufregenden Tag wollte sie noch nicht allein sein müssen. Da kam der geplante Spiele- Abend mit beiden Eltern gerade recht.

Angie stellte das Fahrrad in die Garage und lief durch den Keller ins Haus. Aus dem Wohnzimmer hörte sie eindeutige Geräusche. Papa sah wie früher Fußball. Angie machte sich nichts aus Fußball. Da konnte auch die Zugehörigkeit zu einer Sportklasse nicht helfen. Aber dass ihr Vater wie früher Fußball im Wohnzimmer sah, tat gut! Sie fühlte die Sehnsucht nach der Familie von früher in ihr aufsteigen. Angie steckte den Kopf durch die Tür, um zu sagen, dass sie wieder da sei.

„Hey Paps! Ich bin zurück!“
Ein leises „Super!“ tönte zurück. Hatte Papa ihr geantwortet oder hatte er die gelbe Karte für den Spieler im roten Trikot kommentiert? Anna seufzte leise und verdrehte die Augen. Papa und Fußball…

Angie fand ihre Mutter in der Küche. Sie stand an der Anrichte und zupfte den Salat fürs Abendessen.
„Hallo meine Süße!“, begrüßte Mama sie sofort. „Du warst aber lange weg. Macht aber nichts. Du bist genau rechtzeitig gekommen. Der Salat ist noch nicht fertig. Gut, dass dein Papa Fußball schaut. Dann denkt er nicht an Hunger“ Sie lachte kurz auf, „Wie war es bei Anna?“
„So wie immer“, antwortete Angie und gab Mama einen Kuss. „Das heißt, so ganz wie immer war es gar nicht. Frau Wagner hat heute Geburtstag und wir haben zusammen Torte gefuttert.“ Sie klopfte sich leicht auf ihren nicht wirklich vorhandenen Bauch.
„Sag mal: soll ich dir helfen?“
Angies Mama blickte sie dankbar an.
„Oh ja bitte!“ sagte sie. „Wasch dir die Hände und kümmere du dich bitte um die Tomaten. Ich werde wieder mal nicht fertig, weil ich zu lange im Keller gearbeitet habe. Aber meine „Gruppe der Riesen“ ist kurz vor dem Abschluss!“ Sie strahlte ihre Tochter an. „Zu Beginn nächster Woche kann ich bestimmt mit dem Brennen anfangen!“

„Toll, Mama !“, lobte Angie. „Dann werden wir vielleicht ja doch noch reich und berühmt.“ Sie wollte noch weiter sprechen, doch da kam schon das Küchenhandtuch quer durch den Raum geflogen und landete mitten in ihrem Gesicht.
„Lass den Unsinn, Angie“ , lachte Mama. „ Da drüben findest du ein Brettchen und eine Schüssel zum Schneiden.“
„Ja Ma“, antwortete Angie gehorsam hinter dem Küchentuch. Sie legte es zurück auf die Heizung.

Dann fragte Angies Mama erneut.
„Nun erzähl doch mal! Wie war es bei Anna? Hast du etwas Neues über Engel herausfinden können?“

Angie schluckte. Darauf war sie nicht vorbereitet.

Natürlich hatten sie mittags davon gesprochen und Angies Mutter vergaß eine wichtige Frage niemals. Das hätte Angie wissen müssen. Aber heute war ja alles anders.

Angie antwortete ausweichend.
„Ach weißt du, im Grunde haben wir mehr über den Geburtstag gesprochen und Kuchen gemampft, als dass wir Hausaufgaben gemacht hätten.“
Sie schnippelte auf einmal sehr beschäftigt auf den Tomaten herum.
„Aber ich sehe Anna morgen wieder. Hoffentlich erfahre ich dann etwas Passendes für Reli!“

Angie war froh über die Antwort. Sie kam ihr leicht über die Lippen und enthielt im Grunde die volle Wahrheit. Sie zögerte bei dieser vielleicht zu „optimistischen“ Einschätzung.
Es war immerhin keine „richtige“ Lüge, redete sie sich halbherzig ein. Ihre Mutter hakte nicht weiter nach. Sie nickte nur fröhlich, ehe sie den Blick senkte und den zweiten Kopf Salat in Angriff nahm.